Das Netz im Dunkel
wette mit dir, Audrina, daß du nicht mehr sein Liebling bist, sobald er das Baby heimbringt…,egal ob Mädchen oder Junge.«
In dieser Nacht quälten mich erneut Alpträume. Ich sah Babys, die darauf warteten, geboren zu werden. Sie schwebten auf Wolken umher, und alle weinten und wollten Mammis Baby sein. Ich sah Papa, der mit einer riesigen Baseballkeule alle weiblichen Babys ins Universum hinausschleuderte, und dann packte er sich einen großen Jungen und nannte ihn ›Sohn‹. Der Bruder, von dem ich dachte, ich wünschte ihn mir, wuchs über Nacht zu einem Riesen heran, der mich niedertrampelte–aber Papa kümmerte sich überhaupt nicht darum.
Ich wachte auf. Mein Zimmer kam mir bleich und düster vor. Die Sonne war erst ein rosiger Hauch am Horizont. Noch immer müde, fiel ich erneut in Schlaf. Diesmal träumte ich, daß meine Mammi kam und mich in die Arme nahm. Sie sagte mir, daß ich die schönste und beste und wundervollste Tochter sei und daß sie mich bald wiedersehen würde. »Sei ein braves Mädchen, und gehorche Papa«, flüsterte sie, als sie mich küßte. Ich hörte ihre Worte nicht, fühlte nur, was sie sagte. Ich sah zu, wie sie verblaßte, bis sie Teil einer rosenfarbenen Wolke wurde, die schimmerte wie eines ihrer eleganten Abendkleider.
Es war ein merkwürdiges Gefühl, aufzuwachen und zuwissen, daß meine Eltern nicht im Haus waren. Noch merkwürdiger war es, daß ich von ihnen geträumt hatte. Ich träumte niemals von jemandem, außer er hatte mich enttäuscht oder verletzt. Von Vera träumte ich sehr viel.
Der Tag verlief fast wie der vorige. Ich war so aufgeregt, daß ich schließlich Billie anrief und ihr sagte, sie sollte meinen Geburtstag mit Arden feiern, denn Papa hatte noch immer nicht angerufen, und ich mußte einfach hierbleiben, um mit ihm zu sprechen. »Das verstehe ich, Liebes. Dein Kuchen wartet auf dich. Und wenn es nötig wird, mache ich dir einen neuen.«
Gegen vier Uhr rief meine Tante mich in die Küche. »Audrina«, rief sie, »dein Vater hat angerufen, als du oben warst. Das Baby ist geboren. Sie heißt Sylvia.«
Sie sah mich nicht ein einziges Mal an bei diesen Worten. Ich haßte es, wenn Menschen mit mir sprachen, ohne mich dabei anzusehen. Zur Abwechslung war Vera einmal damit beschäftigt, Kartoffeln zu schälen.
»Jetzt wirst du sehen«, meinte sie und grinste böse, »die wird er lieber haben als dich, du Hohlkopf.«
»Hör auf damit, Vera! Ich will nie wieder hören, daß du Audrina so nennst.«
Zum erstenmal verteidigte meine Tante mich. Dankbar sah ich sie an. »Vera, geh nach oben und mach deine Hausaufgaben. Audrina kann die Kartoffeln weiter schälen.«
Meine Dankbarkeit verging. Immer mußte ich Veras Aufgaben erledigen. Es war fast, als hätte ich eine böse Stiefschwester und wäre selbst das Aschenbrödel. Vera grinste. »Tut mir leid, daß ich dir das antun muß«, sagte meine Tante in einem für sie freundlichen Ton, »aber ich möchte allein mit dir reden.«
»Ist mit Mammi alles in Ordnung?« erkundigte ich michvorsichtig.
»Audrina, ich habe dir noch mehr zu sagen.«
Meine Tante sprach stockend. Auf der anderen Seite der Küche verschwand eine Locke aprikosenfarbenen Haares im Schatten, als Vera versuchte, sich zu verstecken.
»Schon gut, Ellie«, sagte Papa, der genau in diesem Augenblick in die Küche trat. Müde ließ er sich auf einen Stuhl fallen. »Ich werde es ihr selbst auf meine Weise sagen.«
Er war so schnell und still aus dem Nichts aufgetaucht, daß ich ihn wie einen Fremden anstarrte. Noch nie hatte ich ihn mit so langen Bartstoppeln gesehen; noch nie waren seine Kleider so zerknittert gewesen. Seine Augen waren rotgerändert und verschwollen; dunkle Ringe lagen darunter. Er erwiderte meinen Blick kurz, stützte dann die Ellbogen auf den Tisch und vergrub das Gesicht in den Händen. Seine Schultern bebten. Meine Angst wuchs. Ich lief zu ihm und versuchte ihn zu umarmen, wie er mich so oft umarmt hatte. »Papa, du siehst so müde aus.«
Mir war, als ob mein Herz schwer wie ein großer Stein war. Warum zitterte er? Warum verbarg er sein Gesicht? War er so enttäuscht, daß das Baby wieder ein Mädchen war; wurde er einfach nicht mit der Vorstellung fertig, noch ein Kind wie mich zu haben?
Er schauderte. Dann hob er den Kopf, ließ die Hände sinken und ballte sie zu Fäusten. Mehrmals schlug er kräftig auf den Tisch, bis schließlich die Blumenvase umfiel. Sofort lief meine Tante herbei und stellte sie wieder hin. Sie
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