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Das Netz im Dunkel

Das Netz im Dunkel

Titel: Das Netz im Dunkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: V.C. Andrews
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Zehenspitzen schlich ich den Flur entlang, an Veras Zimmer vorüber. Ich konnte ihr Radio spielen hören. Im Zimmer der ersten Audrina machte ich eine schwache Lampe an, ehe ich die Tür schloß und mich umsah. Es war nicht annähernd so sauber wie zu der Zeit, als Mammi noch lebte. Tante Elsbeth sagte, sie hätte zuviel zu tun mit Kochen und Putzen und Waschen. Die wenigen Spinnen, die vor Mammi geflohen waren, waren zurückgekommen und hingen jetzt unter der Decke. Einige von ihnen webten ihre Netze zwischen den Lilien des Schaukelstuhls. Von Abscheu erfüllt ging ich zu einem der beiden Schränke und holte einen Strampelanzug heraus. Damit wischte ich den Schaukelstuhl ab, umwickelte anschließend meinen Schuh mit dem Stoff und quetschte jede einzelne Spinne tot. Es war schrecklich, und ich hatte so etwas noch nie zuvor getan. Ich war schon viel mutiger.
    Zitternd und schwach saß ich dann im Stuhl, bereit aufzuspringen, sollte irgend etwas Schlimmes geschehen. Das Haus war so still, daß ich mich selbst atmen hören konnte. Entspannen, ich mußte mich entspannen. Ich mußte zu dem leeren Kelch werden, der sich mit Frieden und Zufriedenheit füllen würde, und dann könnte Mammi zu mir kommen. Solange ich an Mammi und nicht an die andere Audrina dachte, würden die Jungs im Wald nicht kommen.
    Es war eins von Mammis Liedern, das ich dann sang. Zum ersten Mal, seit Papa mich in diesen Stuhl gezwungen hatte, machte es mir keine Angst, denn Mammi wartete auf mich, als hätte sie gewußt, daß ich sie suchen würde. Hinter den geschlossenen Lidern sah ich sie. Sie war etwa neunzehn, rannte durch ein Feld voller Frühlingsblumen, und ich war noch ein Baby in ihren Armen. Ich wußte, daß ich es war und nicht die erste Audrina, denn um den Hals des kleinen Mädchens hingeine goldene Kette mit meinem Geburtsstein daran. Dann sah ich, wie Mammi mir half, meine Schärpe zu binden, wie sie mir beibrachte, Schleifen zu machen. Und dann, zu meiner großen Überraschung, saß ich neben ihr auf der Klavierbank, und sie zeigte mir, wie man Tonleitern spielt. Da war ich schon älter, und der Ring, der einmal an einer Kette um meinen Hals gehangen hatte, saß jetzt an meinem Zeigefinger.
    Schrecklich aufgeregt kehrte ich aus dem Spielzimmer zurück. Nichts Schlimmes war geschehen. Aber dafür hatte ich ein Geheimnis entdeckt. Eine Erinnerung hatte eines der Löcher in meinem Kopf ausgefüllt. Ohne daß Papa es wußte, hatte Mammi mir ein paar Klavierstunden gegeben.
    Dieses Wissen nahm ich mit zu Bett, hielt es fest in meinem Herzen, denn jetzt wußte ich es ganz sicher. Es war der Wunsch meiner Mutter gewesen, daß ich ihren Platz einnahm, die Karriere machte, die man ihr verweigert hatte.

TEIL ZWEI

Die Musik beginnt von neuem
    Nach Mammis Tod wurde das Leben in unserem Haus ganz anders. Ich ging jetzt nicht mehr in die Kuppel, um Frieden und Einsamkeit zu finden. Ich saß in dem früher so gefürchteten Schaukelstuhl, wo ich das Gefühl hatte, daß Mammi in der Nähe war. Das Leben öffnete sich mir mehr und mehr, und so kümmerte ich mich nur wenig um Vera, die Schwierigkeiten hatte, Treppen zu steigen. Wenn es regnete, hinkte sie mehr, als wenn es trocken war. Aber es entging mir nicht, daß sie sich große Sorgen um ihr Aussehen machte. Täglich wusch sie ihr Haar, drehte es auf, lackierte ihre Nägel so häufig, daß das Haus ständig nach Nagellackentferner roch. Sie bügelte ihre Unterwäsche, ihre Kleider und manchmal sogar ihre Sweater. Sogar ihre Stimme änderte sich. Sie versuchte, sanft zu sprechen, nicht so schrill wie früher. Ich erkannte, daß Vera sich ernsthaft bemühte, meine Mutter nachzuahmen–und ich hatte gedacht, Mammi gehörte mir allein.
    Aus dem Herbst wurde Winter. Thanksgiving und Weihnachten waren düstere, traurige Feiertage, und mein Herz tat mir weh vor Mitleid mit Papa und mir. Sogar Vera sah traurig aus, als sie auf Mammis leeren Stuhl am unteren Ende des Tisches starrte. Wenn Papa arbeitete, war ich allein in einem Haus voller Feinde, ein Schatten dessen, was ich gewesen war, als Mammi noch lebte. Verzweifelt klammerte ich mich an meine Erinnerungen an sie, versuchte, ihr Bild im Nebel meines Gedächtnisses festzuhalten. Ich wollte nicht, daß jemals irgendeine Erinnerung an meine Mutter in diesem bodenlosen Loch meines Gehirns versank, wo alles Vergessene darumkämpfte, wieder an die Oberfläche zu gelangen.
    Papa hielt mich fast wie eine Gefangene in unserem Haus, klammerte sich mit einer

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