Das Netz im Dunkel
sie mich abwies. Ich wollte sie haben, und ich habe sie bekommen; und dann habe ich ihr gesagt, sie wäre nur eine mittelmäßige Pianistin, mehr, um mich selbst als um sie zu trösten. Ich wollte der Mittelpunkt ihrer Welt sein, und sie hat mich dazu gemacht. Sie hat so viel von sich gegeben, hat versucht all das zu sein, was ich mir gewünscht habe, selbst wenn ich nicht der war, den sie sich ersehnte. Sie hat gelernt, wie sie mir gefallen konnte, und dafür hätte ich dankbar sein sollen. Ich habe ihr niemals gesagt, daß ich dankbar bin…«
Er brach ab, mußte sich die Augen trocknen und sich räuspern, ehe er fortfahren konnte. »Sie hat dich mir geschenkt, Audrina. Sie hat mir auch andere Dinge geschenkt, und jetzt, wo es zu spät ist, erkenne ich, daß ich mich niemals auch nur annähernd dankbar genug gezeigt habe.«
Von irgendwo aus meinem Innern tauchte eine Vision von ihm auf, wie er über ihr stand und den Gürtel schwang. Ich hörte wieder ihre Stimme, wie sie in der letzten Nacht geklungen hatte, in der ich sie lebend sah. »Er hat mir niemals weh getan…körperlich.«
Er mußte ihr gefühlsmäßig weh getan haben. Heiße Tränen schossen in meine Augen. Aber warum hatte Papa nichts davon gesagt, daß sie ihm die schönste aller Töchter geschenkt hatte, die tote Tochter auf dem Friedhof?
»Nein«, wiederholte Papa, bebend am ganzen Körper, und versuchte, mich mit seinem Kummer mitzureißen, »ich habe mich niemals auch nur annähernd dankbar genug gezeigt.«
Ich war wütend auf Papa, weil er das Baby gezeugt hatte. Wütend auf Gott, weil er mir meine Mutter genommen hatte. Wütend auf Vera und jeden anderen, der eine Mutter hatte, weil ich keine mehr hatte. Jetzt hatte ich nur noch eine Tante, die mich haßte, und Vera war keinen Deut besser, und Papa–was für eine Liebe war es, die er für mich empfand? Nicht die Art, die ich wirklich brauchte, die verläßliche, sichere Art, die niemals log, niemals schwankte. Wem würde ich mich jetzt anvertrauen können? Meiner Tante gewiß nicht. Sie wollte nie hören, was ich zu sagen hatte, und genausowenig würde sie mir all das erzählen, was ich wissen mußte, um erwachsen zu werden. Wer würde mir beibringen, wie ich einen Mann dazu bringen könnte, mich zu lieben? Papas Art von Liebe war so selbstsüchtig und grausam.
Irgendwie hatte ich seit dem Augenblick, als ich an diesem Morgen aufwachte, gewußt, daß irgend etwas Schreckliches geschehen würde. Irgend etwas in mir, das alles zu wissen schien, vor allem, wenn es um etwas Tragisches ging, hatte mich darauf vorbereitet–und deshalb hatte ich von Mammi geträumt. Vielleicht war siesogar wirklich zu mir gekommen und hatte sich von mir verabschiedet, ehe sie auf dieser rosenfarbenen Wolke verschwunden war. Warum mußte an meinem Geburtstag immer jemand sterben?
Was, wenn Gott nun Papa auch zu sich nahm? Dann hätte ich nur noch meine Tante, die das Beste in mir zerstören würde.
»Wo ist das Baby?« fragte ich mit dünner, spröder Stimme.
»Liebling, Liebling«, fing Papa an, »es wird alles gut werden, bestimmt.«
Ich bog mich zurück, starrte ihn an. Ich wußte, daß er log. Seine breiten Schultern fielen nach vorn. »Also schön, ich will versuchen, es dir verständlich zu machen. Neugeborene Babys sind immer empfindlich. Vor allem Frühgeborene. Sylvia ist sehr klein, sie wiegt nur dreieinhalb Pfund. Sie ist noch kein fertiges Baby, wie du es gewesen bist. Sie hat keine Haare, keine Fingernägel, keine Zehennägel. Deshalb braucht sie Pflege. Hier können wir ihr die nicht geben. Sie ist noch in einem Brutkasten, Audrina, einem beheizten Glaskasten, in dem Ärzte und Schwestern sie ständig überwachen können. Darum muß Sylvia noch eine Weile im Krankenhaus bleiben.«
»Ich möchte sie sehen. Bring mich ins Krankenhaus, damit ich sie sehen kann. Vielleicht hätte Mammi gar nicht sterben müssen, wenn…wenn…«
Aber so sehr ich es auch wünschte, ich konnte ihm nicht sagen, daß er sie umgebracht hatte.
»Liebling«, fuhr er leise und ausdruckslos fort, und seine dunklen Augen sahen mich müde an. »Sylvia ist ein winziges Baby.
Die Schwestern kümmern sich Tag und Nacht um sie.
Sie tragen Masken vor den Gesichtern, um die Luft steril zu halten. Kinder deines Alters sind immer von Bakterien umgeben; man würde dich nicht in Sylvias Nähe lassen. Vielleicht überlebt sie auch gar nicht. Du mußt dich auch auf ihren Tod gefaßt machen.«
O Gott! Wenn sie auch starb, dann wäre
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