Das Netz im Dunkel
brachte mich Arden wieder durch den Wald zurück.
Ich bewunderte Billie–und staunte auch über sie. Ich wollte wissen, wie sie es fertigbrachte, das Haus zu putzen und die Wäsche sauberzuhalten, wo sie doch keine Beine hatte. Wenn ich doch nur Vera erzählen könnte, was Billie alles ohne Beine schaffte, wo sie doch mit ihrer kleinen Behinderung kaum etwas zustande brachte. Ich fragte mich, wie ich mich verhalten würde, wenn ich Billie eines Tages ohne den alles verbergenden, langen, weiten Rock sehen würde. Denn bestimmt würde sie im Sommer nicht so viele Kleider tragen.
Am Rande des Waldes verabschiedeten wir uns hastig voneinander. Arden mußte immer Zeitungen austragen und anschließend noch Lebensmittel. Wahrscheinlich würde er niemals genug Schlaf bekommen, bis er mit dem College fertig war. Ich sah ihm nach, als er sich umdrehte und heimrannte. Er hing so sehr an seiner Mutter, war so rücksichtsvoll und hilfsbereit, daß ich immer weniger Zeit mit ihm verbringen konnte. Aber alles hatte seinen Preis. Traurig öffnete ich die Seitentür und betrat unser Haus der Schatten.
Vera lag auf dem Purpursofa und war in einen der Liebesromane meiner Mutter vertieft. Sie kümmerte sich kaum um mich, so beschäftigt war sie. Ich wollte ihr von Billie erzählen, aber aus irgendeinem Grund hielt ich mich zurück, ich hatte wohl Angst, sie könnte etwas Häßliches sagen. Und es würde auch nichts ändern, wenn ich erzählte, wie hart Billie arbeitete. Vera dachte, Arbeit wäre etwas für Dumme, die es nicht besser wußten. »Mein Gehirn wird mich schon durchbringen«, sagte sie immer. Als ich sie beobachtete, ohne daß sie mich bemerkte, sah ich, wie ihre Zungenspitze über ihre Unterlippe fuhr. Ihre Augen wurden glasig; ihre Brüste hoben und senkten sich, und bald war ihre Hand im Innern der Bluse, wo sie sich streichelte. Dann legte sie das Buch beiseite, warf den Kopf zurück und fing an, ihre andere Hand unter den Rock zu schieben. Ich starrte ihr Treiben an. »Vera! Hör auf damit! Das sieht ordinär aus!«
»Hau ab«, murmelte sie, ohne auch nur die Augen zu öffnen. »Was verstehst du schon davon? Du bist doch ein Baby aus dem Wald–oder nicht?«
Jetzt, wo ich erwachsen wurde, nahm Papa mich oft in seine Firma mit, erlaubte mir, zuzusehen und alles zu lernen, was er wußte. Ich war sein Ausstellungsstück, ersetzte meine Mutter, die oft in demselben Stuhl gesessen hatte, in dem ich jetzt an seinem Schreibtisch saß. Alte Männer und Frauen unterhielten sich mit mir, scherzten mit Papa, ehe sie sich den finanziellen Dingen zuwandten, die ich dank Papas Hilfe jetzt auch verstand. »Eines Tages wird meine Tochter meine Geschäftspartnerin sein«, informierte Papa stolz alle Neuankömmlinge, die es zum Teil schon Hunderte von Malen gehört hatten. »Wenn ein Mann eine Tochter hat wie ich, dann braucht er keinen Sohn.«
An solchen Tagen fühlte ich mich prächtig, und immerendeten sie mit einem Essen in einem guten Restaurant oder einem Kinobesuch. In den Straßen der Stadt sah ich beinlose Bettler, die auf kleinen Karren herumrutschten, manchmal mit behandschuhten Händen. Sie benutzten kleine Dinger, Eisen mit Gummifüßen, um sich damit über die Fußwege zu bewegen, ohne Blasen an den Fingern zu bekommen. Und früher hatte ich sie nie bemerkt, oder wenn doch, dann hatte ich mich abgewandt und so getan, als würde ich sie nicht sehen.
Am nächsten Tag mußte ich Billie etwas sagen, was ich ihr schon immer hatte sagen wollen, seit ich über ihre Beine Bescheid wußte. »Billie, ich habe mir in der Stadt Menschen ohne Beine angesehen. Also–ich werde nicht schockiert sein, wenn du nicht immer diese langen Röcke trägst.«
Sie sah mich mit gerunzelter Stirn an, wandte sich dann ab. Sie hatte ein hübsches Profil, klassisch, perfekt. »Ich weiß, wann du bereit sein wirst, mich ohne meine langen, weiten Röcke zu sehen. Ich kann es in deinen Augen lesen. Und noch bist du nicht soweit. Es ist kein schöner Anblick, Audrina. Diese Männer, die man auf der Straße sieht, tragen Hosen, die sie über den Stümpfen aufstecken, so daß man die Stümpfe nicht sieht. Ich hatte früher einmal sehr schöne Beine; jetzt habe ich zwanzig Zentimeter lange Stümpfe, die nicht einmal ich ansehen kann, ohne von Abscheu erfüllt zu sein.«
Sie seufzte, zuckte die Achseln und lächelte mich dann an. »Manchmal tun mir meine fehlenden Beine noch weh. Phantomschmerzen nennen die Ärzte das. Ich wache mitten in der Nacht auf
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