Das Netz im Dunkel
haben mußte. Ich bat ihn, die Stimme zu senken. Irgend etwas Abstoßendes kam immer über Papa, wenn er von Jungen sprach.
Als endlich der Februar kam, war ich wie ein kleines Kind, das vom Zirkus Glückseligkeit erwartet. Ich brauchte den Wald nicht zu fürchten, denn Papa würde mich morgens mitnehmen, und nachmittags sollte ich im Schulbus heimfahren.
»Du wirst es bald verabscheuen«, prophezeite mir Vera. »Du glaubst, daß es lustig wird, daß es den Lehrern wichtig ist, ob du etwas lernst oder nicht, aber es ist ihnen egal! Du sitzt mit dreißig oder fünfunddreißig anderen in einer Klasse, und bald wirst du wissen, daß es nichts als Langeweile bedeutet–einfache, langweilige Monotonie. Wenn die Jungs dort nicht wären, würde ich fortlaufen und nie wiederkommen.«
Nie zuvor hatte sie das zu mir gesagt. Als ich nicht zurSchule gehen konnte, hatte sie mir von all ihren lustigen Unternehmungen vorgeschwärmt. Sie hatte Hunderte von Freunden aufgezählt und jetzt erzählte sie mir, sie hätte keinen einzigen. »Niemand mag die Whiteferns, nicht einmal wenn sie sich hinter dem Namen Adare verstecken.«
Papa forderte Vera auf, ihren vorlauten Mund zu halten. Hastig sagte ich gute Nacht, lief die Treppe hinauf und ins Spielzimmer, wo ich schaukeln und Mammi von meinem Leben erzählen konnte. Ich war sicher, daß sie irgendwo da oben war und mir zuhörte, sich für mich freute. Und als ich so schaukelte, schienen sich die Wände wieder aufzulösen, sie schienen porös zu werden, die erste Audrina lief durch ein Feld voller Blumen, lachte, als ein etwa zehnjähriger Junge sie jagte. Sie wirbelte herum, als er nach ihrer Schärpe griff und sie aufging. Wer war er? Warum starrte er die erste Audrina so an? Das Bild verblaßte, und die andere Audrina war wieder in der Schule. Ein großer, häßlicher Junge mit Pickeln im Gesicht saß hinter ihr. Locke um Locke tauchte er ihr langes Haar in sein Tintenfaß. Es war während des Kunstunterrichts, und sie bemerkte es nicht einmal.
»Au…driii…naa…«, hörte ich eine erschreckende Singsangstimme. Ich schrak auf, war wieder ich selbst. Vera stand in der Tür. »Raus aus dem Stuhl! Du hast genug! Du brauchst nicht auch noch ihre Gabe! Raus da, und setz dich ja nie wieder rein–er gehört mir! Ich brauche ihre Gabe mehr als du.«
Ich überließ ihr den Schaukelstuhl, weil ich dachte, sie hätte recht. Ich brauchte diese unbekannte Gabe nicht. Sie hatte die erste Audrina nicht am Leben erhalten, ich hatte überlebt, und für den Augenblick war das Geschenk und Gabe genug.
Nervös zog ich mich am nächsten Morgen für meinenersten Schultag an. Mein Rock war dunkelblau, aus einem leichten Wollstoff, den man nicht selbst waschen konnte. Meine Hände zitterten, als ich das schwarze Band um den Kragen meiner weißen Bluse band. »Du siehst sehr hübsch aus«, sagte Papa und lächelte mir von der Tür aus wohlwollend zu.
Hinter ihm stand Vera, mit neidischem Gesicht. Ihre dunklen Augen musterten mich von Kopf bis Fuß. »Ach, Papa, heutzutage zieht sich doch niemand mehr so an. Alle werden über Audrina lachen.«
Sie schaute ihre eigenen Sachen an–ausgeblichene Jeans und einen Sweater. »Man geht jetzt so wie ich.«
Was sie da sagte, schenkte mir nicht gerade das Vertrauen und die Zuversicht, die ich gebraucht hätte. Ich wollte mich anpassen, wollte dazugehören, aber Papa ließ nicht zu, daß ich etwas anderes als Röcke, Blusen, Pullover oder Kleider trug.
Als Vera den gelben Bus bestiegen hatte, der sie zur High School bringen sollte, fuhr Papa mich zu meiner Schule und ging mit mir ins Büro der Direktorin. Man hatte schon alles vorher besprochen, es gab also nichts weiter zu tun, als mir zu zeigen, wohin ich mich wenden sollte, und mir zu sagen, wie ich mich zu verhalten hätte. Die Direktorin schien zu glauben, ich wäre lange Zeit krank gewesen. Sie lächelte mitfühlend. »Es wird dir gut gefallen, wenn du erst einmal alles besser kennst.«
Panik erfaßte mich, als Papa sich zum Gehen wandte. Ich kam mir vor, als wäre ich erst sechs Jahre alt. Und dann wurde meine Panik noch größer, denn ich konnte mich nicht erinnern, wie es war, sechs Jahre alt gewesen zu sein. Über die Schulter warf mir Papa noch einen Blick zu. »Du hast es so gewollt, Audrina. Wenn du kannst, genieße es jetzt.«
»Du bist ein reizendes Mädchen«, erklärte die Direktorin und marschierte einen langen Gang entlang. »Die meisten Kinder hier sind diszipliniert, aber ein paar
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