Das Netz im Dunkel
Marie wurde sie verlegen und ließ mich im Ungewissen. Und immer noch wartete ich auf eine Information, die nie kommen würde.
Eines Nachmittags saß ich im Schaukelstuhl und ließ mich treiben, ließ die Jungs im Wald hinter mir zurück.
Ich wußte jetzt, daß es Papas Gegenwart war, selbst wenn er nur im Flur stand, die mich daran gehindert hatte, irgend etwas anderes in diesem Schaukelstuhl zu finden als die entsetzlichen Schrecken des Waldes. Allein konnte ich den leeren Krug mit Zufriedenheit und Frieden füllen, aber wenn Papa auch nur irgendwo in der Nähe war, mußte ich hinter dem Schaukelstuhl stehen und ihn mit beiden Händen fest umklammern und schaukeln, daß die Bodenbretter knarrten. Erst wenn er dachte, daß irgend etwas geschah, ging er davon.
Diesmal ließ ich die Schule hinter mir und machte mich auf den Weg zu einem wundervollen Ort, als ich aus dem Zimmer meiner Tante einen Streit vernahm. Zögernd trennte ich mich von der Vision der ersten Audrina und wurde wieder nur ich selbst. Meine Tante schrie: »DasMädchen muß zur Schule gehen, Damián! Wenn du sie nicht zur Schule schickst, wird dich jemand bei den Behörden melden. Du hast erzählt, du hättest Lehrer angestellt, die sich um ihre Ausbildung kümmern, aber das stimmt nicht. Und sie wird nicht nur schulisch vernachlässigt; sie wird auch noch in anderer Weise mißbraucht. Du hast kein Recht, sie zu zwingen, in diesem Schaukelstuhl zu sitzen!«
»Ich habe das Recht zu tun, was ich will. Sie ist schließlich mein Kind!« wütete er. »Ich bin Herr in diesem Haus, nicht du. Außerdem hat sie keine Angst mehr vor dem Schaukelstuhl wie früher. Sie setzt sich jetzt bereitwillig dorthin. Ich habe dir ja gesagt, früher oder später wirkt der Stuhl Wunder.«
»Ich glaube dir nicht. Selbst wenn sie freiwillig dort sitzt, was ich bezweifle, möchte ich, daß das Mädchen zur Schule geht. Jeden Tag sehe ich, wie sie Vera nachschaut. Sie steht am Fenster und möchte so gerne haben, was Vera hat. Ich könnte weinen. Hat sie denn noch nicht genug mitgemacht, Damián? Laß sie noch einmal versuchen, ihren Platz zu finden. Bitte, gib ihr noch eine Chance.«
Mein Herz schlug Purzelbäume. Liebte meine Tante mich doch? Oder war es Lámar Rensdale gelungen, sie zu überzeugen, daß ich die Schule brauchte, wenn ich jemals glücklich und normal sein wollte?
Mein Papa lenkte ein. Er würde mir erlauben, die Schule zu besuchen.
Diese kleine, natürliche Sache erfüllte mich mit überwältigender Freude. Als sich die Gelegenheit ergab, flüsterte ich meiner Tante zu, während Vera wieder in einen Liebesroman vertieft war: »Warum, Tante Elsbeth? Ich hätte nicht gedacht, daß es dir etwas ausmacht, wenn ich keine anständige Ausbildung erhalte.«
Sie zog mich in die Küche und schloß die Tür, als wenn auch sie nicht wollte, daß Vera mithörte. »Ich will einmal ganz ehrlich mit dir sein, Audrina. Und die Wahrheit ist etwas, was du in diesem Irrenhaus von kaum jemandem hören wirst außer von mir. Dieser Mann, der dir Klavierspielen beibringt, kam neulich hierher. Er hat mich gedrängt, dir zu helfen. Er hat gedroht, zur Schulbehörde zu gehen und ihnen von deiner Situation zu berichten; dein Vater hätte ein hohes Bußgeld zahlen müssen, wäre vielleicht sogar ins Gefängnis gekommen, weil er eine Schulpflichtige vom Unterricht fernhält.«
Ich konnte es nicht fassen! Lámar Rensdale hatte sein Versprechen erfüllt. Aber es hatte ja auch lange genug gedauert. Ich lachte, tanzte herum, hätte meine Tante fast umarmt, aber sie wich zurück. So rannte ich die Treppe hinauf zum Schaukelstuhl, wo ich anfing zu singen. Ich hoffte, Mammi zu finden, damit ich ihr die gute Nachricht erzählen konnte.
Ein fast normales Leben
Papa ging mit mir einkaufen, damit ich für die Schule vorbereitet war. Ich sollte im Februar eingeschult werden. All meine Weihnachtsgeschenke bestanden aus Dingen, die ich für die Schule brauchte–Mantel, Schuhe, sogar ein Regenmantel wie der von Vera war darunter, wie ich ihn mir schon seit Jahren gewünscht hatte. Es war aufregend, Röcke und Hosen, Sweater und Jacken auszusuchen. Papa wollte mir nicht erlauben, Jeans zu kaufen, wie die anderen Mädchen sie trugen. »Keine Hosen für meine Tochter!« tobte er. »Sie zeigen zu viel. Vergiß nicht, du sitzt immer so, daß die Beine zusammen sind, und schaust nicht einmal zu den Jungs hinüber–hast du gehört?«
Er hatte so laut gesprochen, daß das ganze Kaufhaus ihn gehört
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