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zurückversetzt. Ein gutes Gefühl, wenn sie ehrlich sein sollte. «Dafür gab es mehrere Gründe», begann sie. «Die Sultane waren schwächer und weniger weitsichtig, die europäischen Nationen gewannen an Stärke. Die Janitscharen waren keine Krieger mehr, nur noch korrupte Bürokraten. Und außerdem reichten die Steuereinnahmen nicht, um den Verwaltungsapparat des Reichs zu unterhalten. Suchen Sie sich was aus.»
Stone schüttelte den Kopf. «Das hatte sicherlich alles seinen Anteil daran, aber die Antwort, die mir vorschwebt, ist sehr viel simpler. Sie umfasst nur ein Wort: der Prinzenkäfig.»
«So?» Anna war gespannt, wohin Stones Argumentation noch führen würde.
«Korrigieren Sie mich, falls ich mich irre, aber so, wie ich es verstehe, galt der Prinzenkäfig anfangs als Werk der Aufklärung und des Fortschritts. Bis ins frühe siebzehnte Jahrhundert war es üblich, dass jeder neue Sultan als Erstes seine Brüder erdrosseln ließ – mit einer Bogensehne, wenn ich mich recht entsinne –, damit sie ihm nicht den Thron streitig machten. Aus der Sicht unserer heutigen Zeit klingt das natürlich schrecklich grausam, doch im Grunde war es eine höchst effiziente Maßnahme, um die Rivalitäten und Intrigen im Keim zu ersticken, die bereits zahllosen Großmächten das Genick gebrochen haben.»
«Aber sie hatte sich überlebt», sagte Anna. «Das war übrigens auch Teil der Probleme des Osmanischen Reichs im siebzehnten Jahrhundert. Man hielt dort noch an alten Praktiken fest, während in Europa längst die Moderne angebrochen war.»
«Ganz recht. Brudermord war aus der Mode gekommen. Und so schafften die aufgeklärten, modernen Sultane die Erdrosselungspraxis ab und sperrten stattdessen ihre Söhne in eine Artbesseres Gefängnis im herrschaftlichen Serail. Den Prinzenkäfig eben.»
«Genau», sagte Anna. «Offiziell nannte man das ‹Kafes›.»
«Ein ausgesprochen zivilisiertes Vorgehen. Anstatt potenzielle Problemkinder auszuschalten, sperrt man lieber alle ein. Das hätte selbst unseren Kongressabgeordneten gefallen, wenn es die damals schon gegeben hätte. Doch was war der Preis für dieses aufgeklärte Verhalten? Statt wie ihre Vorfahren kreuz und quer durchs Reich zu ziehen und das Handwerk des Kriegers zu erlernen, blieben die osmanischen Prinzen nun hübsch in Sicherheit, in ihrem Käfig. Wenn ich mich recht erinnere, verbrachte Osman III. fünfzig Jahre dort, ehe er Sultan wurde. Und hat nicht auch Süleyman II. neununddreißig Jahre im Käfig verbracht, größtenteils damit, immer und immer wieder den Koran abzuschreiben? Wenn diese armen Kerle endlich nach draußen durften, wussten sie absolut nichts von der Welt. Sie machten sich nur lächerlich und konnten nicht einmal etwas dafür. Das System war eine Art Garantie dafür, unfähige Herrscher zu produzieren.»
«Ich sehe, Sie haben Lord Kinross gelesen», bemerkte Anna.
Stone grinste verlegen wie ein Schuljunge, der mit einem Spickzettel erwischt worden war. «Nun, aber er hat doch recht, oder?»
«Im Rahmen seiner Analyse hat Kinross durchaus recht, die Gründe für den Niedergang des Osmanischen Reiches waren allerdings doch um einiges vielfältiger, als er glaubt. Aber gehen wir einfach mal davon aus, dass Sie und Kinross tatsächlich richtigliegen. Was in aller Welt hat das mit Karpetland zu tun?»
«Ist das denn nicht offensichtlich?», fragte Stone. «Die aufklärerischen Kräfte haben die CIA zum altmodischen, ineffektiven Relikt der Vergangenheit erklärt und uns in die moderne Entsprechungeines Prinzenkäfigs gesperrt. Und ich versuche, für Sie und für uns alle einen Weg zu finden, diesen Käfig wieder zu verlassen, bevor es zu spät ist.»
Annas Nicken drückte zwar keine Zustimmung aus, aber doch eine gewisse Anerkennung für Stones Vision. Insgeheim aber fragte sie sich, ob er das alles auch wirklich ernst meinte. War er tatsächlich der Meinung, die Welt wäre eine bessere, wenn die Prinzen von der CIA aus ihrem Käfig befreit wurden und tun und lassen konnten, was sie wollten, Entscheidungen treffen, Befehle geben, ohne dass ihnen irgendwelche Richter, Senatoren oder Präsidenten hineinredeten? Das kann er unmöglich ernst meinen, dachte sie. Das war doch ein völlig verrückter Gedanke. Und verrückt war Stone ganz sicher nicht.
«Mittagessen!» Taylor stürmte mit dem Essen und einem Sechserpack Iron City herein. Anna und Stone blieben still, im Geiste noch mit ihrem Gespräch beschäftigt. Im Raum
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