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Light», bestellte Anna.
«Irgendein Hamburger, mit allem, was dazugehört», sagte Stone.
«Wie wär’s mit einem Bier? Das ist gut für die Tarnung.»
«Hervorragende Idee», sagte Stone. Und so machte Taylor sich auf den Weg, brauste mit seinem weißen Lieferwagen durch den Vorort, plauderte auf dem Parkplatz vor dem BurgerKing mit der hübschen Bedienung und holte Bier bei 7-Eleven , wie ein ganz normaler Durchschnittsamerikaner.
22 «Arbeite auf keinen Fall als Spionin.» Das hatte Annas Vater wenige Wochen vor seinem Tod zu ihr gesagt. Es war an einem Sonntagnachmittag, kurz vor seinem zweiten Herzinfarkt, den er nicht überleben sollte, und Anna las ihm aus einem Buch vor, von dem sie glaubte, dass es ihm gefallen könnte. Es hieß
Osmanische Staatskunst
und war eine Art orientalische Version von Macchiavellis
Fürst
, die ein gewisser Sari Mehmed Pascha im siebzehnten Jahrhundert verfasst hatte. Anna gab ein wenig an, indem sie direkt aus dem Türkischen übersetzte.
«Was nun die Spione anbelangt», las sie, «so sind ungeheure Aufmerksamkeit und Vorsicht vonnöten. Lohn gebührt sowohl dem Spion, der freudige Nachrichten überbringt, als auch dem, dessen Informationen Anlass zur Sorge geben. Ihm darf kein Leid geschehen, weil er finstere Neuigkeiten überbringt, denn kein Spion darf sich jemals davor fürchten, seine Nachrichten wörtlich und wahrheitsgetreu zu übermitteln.»
«Mach das nie», unterbrach sie da plötzlich ihr Vater.
«Was denn?»
«Arbeite auf keinen Fall als Spionin.» Sein Ton war so scharf und eindringlich, dass es Anna doch erstaunte.
«Warum denn nicht?»
«Vertrau mir», erwiderte Botschafter Barnes. «Wenn du dich für den Lauf der Welt interessierst, versuch es mit dem diplomatischen Dienst.» Anna hatte das Gespräch damals recht eigenartig gefunden. Was mochte ihrem Vater in seiner langen und scheinbar so mühelosen diplomatischen Laufbahn passiert sein,das ein solches Misstrauen gegenüber Geheimagenten zur Folge hatte? Und wie kam er überhaupt auf die Idee, Anna könne Spionin werden wollen? Sie war Akademikerin – sie wollte Professorin werden, nicht Geheimagentin.
«Warum legst du nicht die Diplomatenprüfung ab?», hatte ihr Vater sie am Abend desselben Tages gefragt.
Und Anna hatte sich geschmeichelt gefühlt. Doch je länger sie über diesen Vorschlag nachdachte, desto mehr kam sie zu dem Schluss, dass ihr Vater vermutlich einfach endgültig die Hoffnung aufgegeben hatte, ihr Bruder könne die Familientradition fortsetzen. Annas älterer Bruder war tatsächlich das beste Beispiel dafür, wie sich die männlichen Nachkommen des Establishments in den Siebzigerjahren selbst ruinierten. Er wohnte in New Mexico, schlug sich zeitweise als Künstler durch, spielte aber vorwiegend den Guru einer Gruppe ausschließlich weiblicher New-Age-Anhänger, die ihn aus irgendeinem Grund unwiderstehlich fanden. Bei seinen seltenen Heimatbesuchen vor dem Tod des Vaters fiel er grundsätzlich durch irgendwelche provokanten Aktionen auf, legte beispielsweise das I Ging auf dem Wohnzimmerboden, während alle anderen Cocktails tranken, oder erstellte zum wiederholten Mal die Horoskope der gesamten Familie, nur um zu beweisen, dass er sich kein bisschen gebessert hatte. Annas Bruder war offensichtlich kein geeigneter Anwärter auf den diplomatischen Dienst, geschweige denn eine Mitarbeit bei der CIA.
Blieb nur noch Anna. Sie allerdings war damals noch fest entschlossen, die intellektuelle Laufbahn zu verfolgen, die sie im Übrigen auch für die verdrängte Berufung ihres Vaters hielt. Sie hatte schon immer gern in seinen Büchern geschmökert, vor allem in denen, die er während des Krieges auf seinem Zerstörer dabeihatte: Shakespeares Gesammelte Werke, Macchiavellis
Fürst
, Freuds
Traumdeutung
, ein eselsohriges Exemplar des
Ulysses
von James Joyce und die Gesamtausgabe der Gedichte von T. S. Eliot. Mit einem Wort: der Kanon der Moderne. Der junge Marineoffizier hatte jedes einzelne Buch sorgfältig mit Anmerkungen versehen, als wollte er für die große Prüfung des Lebens pauken, die ihn vielleicht schon mit dem nächsten Geschwader japanischer Kriegsbomber erwartete. «Mit Jungs Archetypen vergleichen», stand in der
Traumdeutung
, «Aber muss der moderne Fürst dabei so zynisch sein?» am Rand von Macchiavellis Hauptwerk. Und im letzten Akt von
König Lear
hatte er notiert: «Richtig! Reif sein ist tatsächlich alles.»
Jede junge Frau bringt einen Teil ihrer
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