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Das Netzwerk

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Titel: Das Netzwerk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Ignatius
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Jugend mit dem mehr oder weniger bewussten Versuch zu, ihren Vater kennenzulernen, einen Zugang zu seiner Welt zu finden, doch bei Anna war das ausgeprägter als bei den meisten anderen. Sie hatte damals keinen anderen Wunsch, als ewig weiter in seiner Bibliothek zu stöbern. Erst nach seinem Tod erfuhr sie von einem Freund der Familie, dass ihr Vater seine Regierungslaufbahn keineswegs als Diplomat begonnen hatte: Er war in geheimer Mission in Deutschland im Einsatz gewesen. Offenbar war die verdrängte Berufung also doch eine ganz andere.
     
    Als sie jetzt unter den grellen Neonlampen saß und darauf wartete, dass Taylor mit dem Mittagessen zurückkam, musste Anna an ihren Vater denken, den Botschafter mit der Abneigung gegen Spione. Stone war auf die Toilette verschwunden, und Anna setzte sich an einen der grauen Schreibtische und versuchte zu ergründen, was genau sie so belastete. Sie war verwirrt, wusste aber nicht recht, ob das an den Dingen lag, die Stone ihnen gerade erzählt hatte, oder an der verschütteten Erinnerung an ihren Vater, die dadurch wieder ans Licht gekommen war. Umsich zu beschäftigen, räumte sie den Schreibtisch auf, verschob das schwarze Telefon und schichtete die Karpetland-Briefbögen zu einen ordentlichen Stapel.
    Schließlich kam Stone aus dem Waschraum zurück. Er hatte das graue Haar feucht zurückgekämmt, so wie er es auch sonst trug, und seine lässige Aufmachung aus Holzfällerhemd und Arbeitshose kontrastierte aufs schärfste diese aristokratische Frisur.
    «Sie sollten so was nicht tragen», bemerkte Anna.
    «Warum denn nicht?», fragte Stone. «Mir gefällt’s.»
    «Darf ich ehrlich sein?»
    «Aber ja, nur zu.»
    «Es sieht einfach albern aus.»
    «Inwiefern?»
    «Die Kleidung eines Mannes ist wie eine Uniform. Und wenn er seine eigene Uniform ablegt und dafür die von jemand anderem anzieht, dann sieht das eben albern aus.»
    «Na gut. Ich werde es mir merken.»
    Anna beschäftigte sich weiter mit ihren Ordnungsarbeiten, ohne aufzusehen. Stone musterte sie einen Augenblick lang. Er schien zu spüren, dass sie etwas belastete, und so fragte er: «Wie fanden Sie denn meinen kleinen Vortrag heute Morgen? Hoffentlich nicht allzu langweilig.»
    «Keineswegs. Ich finde das alles faszinierend. Ich habe nur einfach noch furchtbar viel zu lernen.»
    «Haben Sie etwas gehört, das Sie überrascht hat?»
    Anna überlegte einen Augenblick. Wenn es einen guten Zeitpunkt gab, um ehrlich zu sein, dann jetzt. «Ja», sagte sie. «Etwas gibt es schon, was ich nicht ganz verstehe.»
    «Und das wäre?»
    «Das hört sich jetzt vielleicht dumm an, aber ich begreifeeinfach nicht, weshalb es so wichtig ist, die CIA aggressiver zu präsentieren, als sie ist. Das macht es doch eigentlich noch schwieriger, mit den Sowjets zurechtzukommen.»
    «Ach, Anna, ich wusste doch, dass Sie eine Frau nach meinem Herzen sind», erwiderte Stone. «Das ist eine äußerst kluge und differenzierte Frage. Und kurzfristig gesehen lautet die Antwort: Ja, vermutlich werden sie dadurch noch renitenter. Doch auf lange Sicht stürzt es sie ins Verderben.»
    «Was macht Sie da so sicher?»
    «Ich bin mir nicht sicher, zumindest nicht in dem Sinn, dass ich etwas beweisen könnte. Es ist eher eine Frage der Überzeugung. Ich glaube fest daran, dass auf lange Sicht Schwäche bei der Interaktion von Nationen zur Katastrophe führt und Stärke zum Erfolg. Das ist gewissermaßen das intellektuelle Fundament meines Lebens, an dem ich genauso wenig zweifeln werde wie daran, dass täglich wieder die Sonne aufgeht. Und es führt mich zu der Überzeugung, dass wir, wenn wir im Moment schon nicht stark
sein
können, zumindest gut daran tun, stark zu
scheinen

    «Das mag ja alles stimmen», sagte Anna. «Es hört sich aber trotzdem an wie ein Stich ins Hornissennest. Wozu soll es gut sein, die Paranoia der Sowjets zu schüren? Warum ziehen wir uns nicht einfach zurück?»
    «Wie kann ich Ihnen das begreiflich machen? Versuchen wir es mit einem historischen Beispiel, das Ihnen vertraut sein wird. Ich habe mich in den letzten Wochen ein wenig in Ihr Spezialgebiet eingelesen, und dabei erschien mir eine Frage besonders interessant und zudem noch relevant für unser Gespräch.»
    «Dann lassen Sie mal hören.»
    «Die Frage ist folgende: Wie kam es zu dem raschen Niedergang des Osmanischen Reichs im siebzehnten Jahrhundert?»
    «Lassen Sie mich mal überlegen.» Anna fühlte sich wieder ins Universum der Forschungsbibliotheken

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