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Das Netzwerk

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Titel: Das Netzwerk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Ignatius
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durchzugreifen oder sich geschlagen zu geben. Was wiederum einer ganzen Generation von CI A-Mitarbeitern , die miterlebt hatten, wie sich der Vietnamkrieg entwickelte, nur allzu bekannt vorkam. Im Verlauf des Frühjahrs 1979 wuchs die sowjetische Militärpräsenz in Afghanistan stetig. Überall im Land sah man sowjetische Militärberater in Uniformen der afghanischen Armee. An einem Sommertag beauftragte das CI A-Büro in Kabul einen Agenten, die hellhäutigen Männer zu zählen, die draußen auf dem Luftwaffenstützpunkt Bagram Volleyball spielten. Als er bei vierhundert angekommen war, gab der Mann das Zählen auf.
    Wenn man menschliche Dummheit so aufmerksam studierte, wie Anna Barnes es seit annähernd zehn Jahren tat, brauchte man keine Geheimdienstberichte zu lesen, um zu begreifen, worum es bei dem heraufziehenden Afghanistan-Krieg ging. Die grundlegenden Fakten waren auch dem kurzen Zeitungsartikel zu entnehmen, den Anna während der Rückreise aus Athen im Flugzeug las. Er berichtete vom Schicksal mehrerer sowjetischer Berater, die den Mudschaheddin in die Hände gefallen waren. Die afghanischen Rebellen brüsteten sich damit, ihren russischen Gefangenen Ohren und Hoden abgeschnitten und ihnen anschließend streifenweise die Haut abgezogen zu haben.
    Der Bericht fiel Anna jedoch weniger wegen der ungewöhnlichen Grausamkeit des geschilderten Vorfalls auf, sondern vielmehr wegen seiner Alltäglichkeit. Er hätte ebenso gut aus jedem anderen dortigen Krieg während der letzten eintausend Jahre handeln können. Nüchtern betrachtet war die Geschichte jener Region eine einzige Folter-Inszenierung. Der unglückliche russische Soldat, der in Afghanistan vor Schmerzen schrie, weil ihm ein weiterer Streifen fleischiger, weißer Haut abgezogen wurde, hätte in seinem Peiniger auch das Gesicht des osmanischen Generals Lala Mustafa erkennen können. Nach den Gefechten um Famagusta 1570 nahm der große Mustafa seinen venezianischen Gegner gefangen, schnitt ihm die Nase und das rechte Ohr ab, ließ ihn foltern und anschließend bei lebendigem Leibe vierteilen. Anschließend ließ er die leere Hauthülle beizen, mit Stroh ausstopfen und im Triumphzug durch die Stadt tragen. Schmerz ist zeitlos. Vielleicht sah ja auch der muslimische Gotteskrieger im Gesicht seines russischen Widersachers das Antlitz des Kreuzritters Richard Löwenherz, der die gesamte Bevölkerung von Akre, zweitausendsiebenhundert Männer, Frauen und Kinder, töten ließ, nachdem die Stadt 1191 kapituliert hatte.
    Bei der Lektüre ihrer Geschichtsbücher war Anna mitunter der Verdacht gekommen, die Folter sei der elementarste Bestandteil des Machtgefüges im Nahen Osten und in Zentralasien. Die Fähigkeit, Schmerzen zuzufügen, machte einen Sultan zum starken Anführer, Mildheit und Gnade hingegen ließen ihn schwach erscheinen. Darin lag ja die Tragik des Osmanischen Reichs, dass dieses edle, zivilisierte Volk zugleich auch so grausam sein konnte. Bei jedem Sultan war es dieselbe elende Geschichte, als müssten die Erben des Reichs immer wieder denselben blutrünstigen Albtraum durchleben. Murad   I., ein Sultan aus dem vierzehntenJahrhundert, war so erzürnt über Gunduz, seinen rebellischen Sohn, dass er ihm die Augen ausstechen und ihn köpfen ließ; anschließend stellte er die Loyalität seiner Wesire auf die Probe, indem er von ihnen verlangte, ihre Söhne ebenfalls zu blenden und zu köpfen. Fast alle gehorchten. Ein Jahrhundert später fand Mehmed   II. Gefallen am hübschen vierzehnjährigen Sohn eines Ministers und befahl, man möge ihm den Jungen zuführen. Als der Minister sich weigerte, ließ Mehmed Vater und Sohn enthaupten und ihre Köpfe an der abendlichen Tafel präsentieren. Als Selim   I. 1512 an die Macht kam, bestand seine erste Amtshandlung darin, seine beiden Brüder erdrosseln zu lassen, was nach osmanischem Ermessen ja geradezu alltäglich war, und dazu noch ihre fünf Söhne, von denen einige noch keine sechs Jahre alt waren. Er selbst lauschte den Schreien im Nebenzimmer. Sein Nachfolger, der unvergleichliche Süleyman der Prächtige, notierte in seinem Tagebuch, er lasse regelmäßig Soldaten aus seiner Truppe enthaupten, weil sie sich beispielsweise des Vergehens schuldig gemacht hätten, ihre Pferde auf noch nicht abgeernteten Feldern weiden zu lassen. Kalkulierte Grausamkeit war der Kern aller Macht. So schritt die Geschichte im Nahen Osten und in Zentralasien immer weiter fort, von Massaker zu Massaker, von Folter zu

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