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Das Netzwerk

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Titel: Das Netzwerk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Ignatius
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dass er recht hatte. Die Rekrutierung des jungen Armeniers war einzig und allein ihre Idee gewesen. Sie hatte kein Recht dazu, von Stone oder sonst jemandem zu verlangen, dass er den Karren wieder aus dem Dreck zog. Es war ihr eigenes Problem, und sie würde es auf irgendeine Weise selbst lösen müssen. Stone konnte sich in dieser moralischen Sackgasse im Kreis drehen, so lange er wollte – Anna war schließlich nicht an ihn gekettet.
    «Ich brauche frische Luft», sagte sie. «Ich gehe ein bisschen spazieren.»
    «Ich begleite Sie», sagte der alte Mann.
    «Nein, bitte nicht. Ich will ein bisschen allein sein. Ich muss nachdenken.»
    «Dann warte ich hier auf Sie.» «Wie Sie wollen», sagte Anna.
     
    Fast eine Stunde lang folgte sie der Straße direkt neben der Autobahn, ohne auf den vorbeibrausenden Verkehr zu achten, und zerbrach sich dabei den Kopf über Aram Antoyans Lage und darüber, wie sie ihm helfen konnte.
    Reflexhaft überlegte sie, was ihr Vater in so einer Situation getan hätte, doch der Gedanke verging wieder. Dieser Maßstab, an dem sie so lange fast alles in ihrem Leben und ihrem Umfeld gemessen hatte, passte jetzt einfach nicht mehr. Noch vor ein paar Monaten hätte Anna die Frage anders formuliert: Was würde Edward Stone tun? Wie würden die alten Knaben, die glorreichen Helden des Jahres 1945, ein solches Dilemma lösen? Doch inzwischen war ihr etwas über diese Männer klar geworden: In all den Jahren, während sie im Athenian Club auf ihre legendären Siege anstießen, hatten sie jedes Verantwortungsgefühl für all die Untergebenen an Orten wie Laos oder Vietnam, in den Bergen von Kurdistan oder in der Schweinebucht verloren, die in ihrem Auftrag Kopf und Kragen riskierten. Sie hatten die unschöne Gewohnheit, ihre Agenten einfach hängenzulassen. Und so sehr sie noch am Anfang stand, wollte Anna doch nicht denselben Fehler machen.
    Ein letztes Lösungsmodell schoss ihr durch den Kopf. Es war schlecht durchdacht, spontan, leichtsinnig und kaum tragfähig – lauter Eigenschaften, die es mit dem Menschen teilte, an den Anna nun denken musste. Was, überlegte sie, würde Alan Taylor in so einer Lage tun? Oder präziser: Was würde er für die richtige Handlungsweise halten, auch wenn ihm selbst das nötige Feuer fehlte, sie in die Tat umzusetzen?
    Immer weiter stapfte Anna über den groben Kies, der am Rand der Straße verstreut lag. Zwei zentrale Tatsachen konnte sie einfach nicht umgehen: Erstens war sie es gewesen, die den armenischen Arzt überhaupt in diese prekäre Lage gebrachthatte, und zweitens würde er am 10.   November, also in etwas über zwei Wochen, ganz sicher in die Falle tappen, wenn sie nicht irgendetwas unternahm, um ihn zu warnen. Aus diesen beiden unausweichlichen Fakten entstand die Idee, die sich langsam in ihrem Kopf festsetzte. Man konnte nicht von einem Plan sprechen, dafür war sie viel zu vage und undurchdacht. Die einzige Stärke der Aktion lag in ihrer Waghalsigkeit: Niemand, der halbwegs bei klarem Verstand war, würde etwas Derartiges auch nur in Erwägung ziehen – was der Sache nach Annas Einschätzung immerhin eine leichte Aussicht auf Erfolg verlieh.
    Stone löste das Kreuzworträtsel der
New York Times
, als Anna zurückkam. Seine Augen glitzerten freundlich, seine Miene war wie immer vollkommen entspannt. Er nahm sich Zeit, sie zu mustern, sah den Ernst und die Entschlossenheit in ihrem jugendlichen Gesicht.
    «Sie fahren hin, stimmt’s?», sagte er.
    «Wohin?»
    «Nach Eriwan. Sie haben sich entschlossen, Ihren armenischen Arzt höchstpersönlich zu retten.»
    «Wie kommen Sie denn darauf?», fragte Anna mit wenig überzeugender Entrüstung. Sie wurde rot.
    «Sie sind eben leicht zu durchschauen, mein Kind.»
    «Das geht Sie einen Dreck an. Ich arbeite nicht mehr für Sie, Sie haben also einmal im Leben nichts mit der Sache zu schaffen.»
    «Gut», sagte Stone gelassen. «Aber falls Sie doch so ein verrücktes Abenteuer planen, sollten Sie sich zumindest einen Rat anhören.»
    «Ich habe die Schnauze voll von Ihren Ratschlägen.»
    «Das kann ich Ihnen nicht einmal verdenken. Trotzdem solltenSie sich diesen letzten Rat noch anhören, denn er könnte Ihnen vielleicht das Leben retten. Und ihm.»
    Anna schwieg, doch sie hörte zu.
    «Wenn Sie hinfahren, müssen Sie das ganz allein tun. Lassen Sie den Geheimdienst völlig draußen. Haben Sie das verstanden? Machen Sie einen großen Bogen um die Botschaft.»
    «Worauf wollen Sie hinaus?» Anna warf

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