Das Netzwerk
Konsulat erhalten und über Intourist deren kompaktestes Pauschalangebot gebucht: eine achttägige Rundreise mit kurzem Aufenthalt in Moskau bei der Ankunft. Am selben Abend ging es für drei Tage nach Eriwan, danach für drei Tage nach Tbilisi und schließlich zurück nach Moskau, von wo aus sie wieder nach Hause fliegen würde. Der Zeitplan war knapp, aber durchaus machbar. Anna war am Nachmittag des 7. November in New York aufgebrochen, sie würde also am Mittag des 8. Novembers in Moskau sein und am selben Abend nach Eriwan weiterfliegen. Damit blieb ihr ein ganzer Tag, um Doktor Aram Antoyan aufzuspüren.
Die Angst hatte sie zum ersten Mal überfallen, als sie am Kennedy-Flughafen ihren Koffer eincheckte und sich klarmachte, dass sie ihn erst in Moskau wiederbekommen würde. Bis zum Abflug blieben ihr noch anderthalb Stunden. Benimm dich wie eine Touristin, sagte sie sich. Vor dem Kiosk und der Drogerie wartete eine lange Schlange von Leuten, um sich noch rasch mit dem Allernötigsten einzudecken. Anna stellte sich an und kaufte ein Ersatzdeo, Tampons, Kaugummi, Taschentücher und ein paar Schlaftabletten. Dann besorgte sie sich ein halbes DutzendZeitschriften, um etwas zu lesen zu haben, falls sie doch zu nervös war, um sich auf ein Buch zu konzentrieren. Doch als sie dann in der Abflughalle saß, schaffte sie es nicht einmal, sich in
People
zu vertiefen. Sie schloss die Augen, bis sie laute Stimmen hörte, die Russisch sprachen. Eine Gruppe Männer, allesamt Russen, hatte die Abflughalle betreten. Sie trugen Lederjacken und enge Jeans, rauchten amerikanische Zigaretten und strahlten eine raubeinige Erotik aus, wie amerikanische Arbeiter aus den Fünfzigerjahren. Vielleicht gehörten sie ja zu einer Sportmannschaft. Anna fand es ganz verständlich, dass sie hier herumlärmten – es war vermutlich ihre letzte Gelegenheit dazu.
Sie hatte das Glück, auf dem Fensterplatz einer leeren Sitzreihe zu sitzen, sodass sie sich mit niemandem unterhalten musste. Nach dem Essen nahm sie eine Schlaftablette, in der Hoffnung, zumindest ein wenig Schlaf zu finden, doch das hatte ihr nur den Bosporus-Albtraum beschert, und danach konnte sie nicht mehr einschlafen. Sie lauschte dem Brummen im Bauch des Flugzeugs und dachte an Aram, an seinen kompakten Körper und daran, wie er sie in Paris an der Tür ihrer Suite im Bristol umarmt hatte. Sie versuchte es erst mit einer Zeitschrift und dann mit einem Roman von Graham Greene über ein Lepra-Krankenhaus in Afrika, doch es hatte alles keinen Sinn. Irgendwann gab es Frühstück: Der Kaffee war dünn, die Brötchen offensichtlich vom Vortag. Moskau konnte nicht mehr weit sein.
In gewisser Weise erwies es sich als Glück, dass Anna nicht viel geschlafen hatte, denn die Müdigkeit dämpfte ihre Beklommenheit, als sie an der Passkontrolle zum ersten Mal mit dem sowjetischen Bürokratismus in Berührung kam. Sie wurde erst im allerletzten Moment nervös, als sie das Zollhäuschen betrat und der Grenzbeamte des KGB sie mit seinen stahlblauen Augen von unten herauf musterte. Überzeugt, dass ihre Augensie verraten würden, wandte Anna den Blick ab und reichte dem Mann ihren Pass und ihr Visum. Dann wartete sie. Wie so vieles in der Sowjetunion diente auch das Zollhaus der Einschüchterung. Das erbarmungslose Neonlicht ließ selbst robusteste Zeitgenossen bleich und zerbrechlich aussehen, und gegenüber von dem Grenzbeamten war ein länglicher Spiegel an der Decke angebracht, in einem Winkel, der es dem Beamten ermöglichte, die Bittsteller auch von hinten zu sehen. So sah er genau, ob ihnen die Hände zitterten oder die Knie oder ob sie nervös mit dem Fuß wippten.
Anna ließ die Arme hängen und hielt die feuchten Hände fest zu Fäusten geballt. Der Beamte ließ sich Zeit, studierte erst ihren Pass, dann ihr Gesicht und schließlich ihr Visum. Versehentlich sah sie ihm doch einmal in die Augen und spürte, wie ihr Kopf unwillkürlich zuckte, obwohl sie sich Mühe gab, ihn ganz ruhig zu halten. Der KG B-Beamte besah sich noch einmal ausführlich ihren Pass, warf einen Blick auf ein Blatt Papier, das vor ihm lag, und erhob sich dann.
Großer Gott, dachte Anna, sie haben mich erwischt. Ich stehe auf der schwarzen Liste. Urplötzlich spürte sie nackte Angst, eine Art innerliches Aufbäumen, als würde ein Topf überkochen. Stone hatte sie vor diesem Moment gewarnt. Es gab keine Möglichkeit herauszufinden, ob die Sowjets sie als Geheimagentin identifiziert hatten, bis sie
Weitere Kostenlose Bücher