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Das Netzwerk

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Titel: Das Netzwerk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Ignatius
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noch mit Schreiben nach.
    «Kurz gesagt, verhalten Sie sich keinesfalls wie eine Agentin. Die Sowjets kennen sämtliche Tricks, und jeder einzelne dient ihnen als Hinweis, dass Sie in geheimer Mission unterwegs sein könnten. Sie verfolgen routinemäßig jeden, der auch nur ein klein wenig verdächtig wirkt. Und behalten Sie immer im Kopf, dass der KGB aus praktisch unbegrenzten Ressourcen schöpfen kann. Es wurden schon bis zu fünfzehn Wagen für eine einzige Überwachung eingesetzt. Versuchen Sie nicht, die Sowjets auszutricksen, das wird Ihnen sowieso nicht gelingen. Wenn Siedas Gefühl haben, dass Ihnen jemand folgt, geben Sie auf und fliegen zurück nach Hause. Jeder Versuch, die Überwachung abzuschütteln, macht alles nur noch schlimmer. Haben Sie das verstanden?»
    «Ja. Haben Sie sonst noch Ratschläge für mich?»
    «Nicht mehr allzu viele. Wenn Sie in Eriwan sind, halten Sie sich an die Tatsachen. Sie haben Antoyan in Paris kennengelernt, er ist ein attraktiver junger Mann, und Sie sind in Armenien. Warum sollten Sie ihn also nicht einfach besuchen? Das ist ganz normal. Ergehen Sie sich also nicht in kryptischen Andeutungen am Telefon. Versuchen Sie erst gar keine Spielchen. Sie fahren hin und wieder zurück. Und wenn Sie Glück haben, schaffen Sie es.»
    «War’s das?»
    «Eins noch. Halten Sie sich von anderen Agenten fern, vor allem aber von Alan Taylor.»
    «Warum ausgerechnet von ihm?»
    «Weil er ein schlechtes Gewissen hat. Wenn er herausfindet, was Sie vorhaben, wird er versuchen, Sie davon abzuhalten.»
    «Es geht Sie zwar wirklich nichts an, aber Taylor ist sicher der Letzte, dem ich von diesen Plänen erzählen würde.»
    «Viel Glück», sagte Stone und drückte ihr herzlich die Hand. Anna erwiderte den Händedruck, blieb aber nach wie vor misstrauisch.
    «Ich begreife Sie einfach nicht», sagte sie.
    «Warum denn nicht? Inzwischen sollten Sie doch in mir lesen können wie in einem offenen Buch.»
    «Da irren Sie sich. Als ich eben hierher zurückkam, war ich überzeugt, Sie würden versuchen, mich von dem Vorhaben abzubringen, wenn ich Ihnen davon erzähle.»
    «Was hat Sie auf diesen Gedanken gebracht?»
    «Während der Arbeit mit Ihnen habe ich vor allem eines gelernt: dass Sie immer noch ein verborgenes Anliegen haben. Sie sagen und tun nie etwas, wenn es nicht einem übergeordneten Zweck dient. Ich habe keine Ahnung, worauf Sie in diesem Fall aus sind. Und um ehrlich zu sein, ist mir das auch herzlich egal.»
    Stone lächelte. «Ich lag von Anfang an richtig mit Ihnen, Anna. Sie sind wirklich eine höchst bemerkenswerte Frau. Es war mir eine große Freude, mit Ihnen arbeiten zu dürfen.»
     
    43  Anna erwachte über dem Nordatlantik mit dem Gefühl, ersticken zu müssen. Sie kämpfte sich ins Bewusstsein zurück, als säße sie unter Wasser fest und versuchte verzweifelt, an die Oberfläche zu gelangen, bevor ihr die Luft ausging. Die Angst schwand erst, als ihr klar wurde, dass es nur ein Traum gewesen war, der sie in den letzten zehn Jahren häufig heimsuchte. Die Bilder stammten aus der osmanischen Geschichte: Ein besonders grausamer Sultan hatte sich in den Kopf gesetzt, dass eine seiner Konkubinen ihn betrüge, und verhörte deshalb jede einzelne Frau in seinem Harem. Als keine sich geständig zeigte, ordnete er an, sämtliche Frauen im Haus ertränken zu lassen. Es waren über zweihundert. Sie wurden ergriffen, in mit Steinen beschwerte Säcke gesteckt und in den Bosporus geworfen.
    In ihrem Traum sprang Anna jedes Mal von der Serail-Spitze aus ins Wasser. Je tiefer sie tauchte, desto lauter umgab sie ein geisterhafter Chor von Frauenstimmen. Und wenn sie auf dem Grund des Bosporus ankam, sah sie einen endlosen Unterwasserwald aus lauter Säcken, die sich sanft im Wasser wiegten. In jedem einzelnen steckte eine tote Frau. Von Grauen gepackt,versuchte Anna, wieder an die Oberfläche zu gelangen, während sich ihr aus den Säcken Arme flehentlich entgegenreckten. Sie schaffte es jedes Mal, tauchte im selben Moment aus dem Wasser auf, in dem sie auch aus dem Traum erwachte. Und trotzdem war er jedes Mal aufs Neue schrecklich. Und am schrecklichsten war er in dieser Nacht im Flugzeug auf dem Weg nach Moskau, denn diesmal war sie selbst in einen tonnenschweren Sack eingenäht und sank mit jeder Sekunde tiefer in den unermesslichen Abgrund.
    Anna hatte alles so gemacht, wie Stone es ihr geraten hatte. Sie hatte ihr Visum innerhalb der obligatorischen zwei Wochen vom sowjetischen

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