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sei.
«Was ist mit der anderen Lieferung?», fragte der Aserbaidschaner mit schiefem Grinsen.
«Welche andere Lieferung?», fragte Aram, und der warme Strom der Erleichterung, den er gerade noch verspürt hatte, gefror zu Eis. «Was meinen Sie damit?»
«Die andere Lieferung, die meine Vettern aus dem Iran herübergebracht haben.» Er öffnete die Tasche ganz, um Aram zu zeigen, was unten darin lag, und Aram sah einen kleinen Beutel, der mit weißlichem Pulver gefüllt war.
Sein Blick schoss unruhig hin und her. Er musterte den Aserbaidschaner und sah die Miene eines Geschäftsmanns, eines Schmugglers, dem an einem guten Verhältnis zu den Grenzschutzsoldaten gelegen war und der Armenier obendrein nicht ausstehen konnte. Aram schaute sich im Zimmer um. Er konnte nichts Ungewöhnliches entdecken, doch dann hörte er das laute Quietschen eines Dielenbretts hinter der geschlossenen Küchentür.
«Für wen ist die andere Lieferung?», fragte der Schmuggler. «Wer wird sie abholen?»
«Es war keine andere Lieferung vereinbart. Nur das Gerät hier.»
«Da täuschen Sie sich, mein Freund.» Der Aserbaidschaner griff erneut in die Tasche und zog ganz langsam ein Päckchen Plastiksprengstoff hervor. «Ich glaube, Sie wollen meine aserbaidschanischen Brüder töten.»
«Großer Gott!», flüsterte Aram. Anna hatte recht gehabt: Der Mann spielte ein falsches Spiel. Er drehte sich auf dem Absatz um und rannte zur Tür. Im selben Moment flog die Tür zur Küche auf, und ein Mann mit einer Pistole in der Hand schrie ihm nach, er solle stehen bleiben.
Anna blickte starr auf die Straße und wagte kaum zu blinzeln. Aram blieb eine Minute im Haus, dann zwei, dann drei. Anna zählte die Sekunden. Schließlich atmete sie tief durch, wandte den Blick ab und schaute zu dem kleinen Spielareal auf dem Dorfplatz hinüber. Erst begriff sie nicht, kam gar nicht auf die Idee, sich die Frage zu stellen: Wo waren die Kinder? Was war mit den Dutzenden Kindern geschehen, die noch vor einer Stunde auf den Straßen von Kiarki gespielt hatten? Sie waren verschwunden. Alle Straßen waren menschenleer, und die Stille lastete viel zu schwer.
Anna schaute zu Shirvanshirs Tür zurück. Da stimmte etwas nicht. Sie stieg aus dem Wagen, machte erst einen Schritt auf das Haus zu und dann noch einen. Sie sah, wie die Tür sich öffnete. Einen Augenblick später hallte ein Schuss durchs Dorf. Dann sah sie Aram. Er streckte ihr einen Arm entgegen, um sie zum Umkehren zu bewegen. Sein anderer Arm hing schlaff herab, blutüberströmt von der Schusswunde.
Noch hielt er sich auf den Beinen, stolperte auf sie zu und rief etwas, was sie nicht verstehen konnte. Dann kamen zwei Schergen hinter Shirvanshirs Haus hervor, und zwei weitere näherten sich von der anderen Straßenseite. Sie wollten Aram den Weg versperren, ihn zum Aufgeben zwingen, ohne ihn zu töten, ihn am Leben lassen, um ihn später besser verhören zu können. Aram rannte direkt auf den Mann zu, der ihm am nächsten war, stieß ihn beiseite und zwang damit die anderen, zu ihrem eigenen Schutz die Waffen anzulegen. Aram rannte immer weiter. Ein zweiter Schuss zerriss die Stille im Dorf und gleich darauf ein dritter. Als sie die Schüsse hörte, suchte Anna Deckung hinter einer Steinmauer. Sie war auf halbem Weg zwischen Haus und Wagen und konnte weder Aram retten noch sich selbst.
Eine Kugel durchschlug Arams rechtes Bein, und er fiel zu Boden. Als die Schergen sich um ihn scharten, um ihn festzunehmen, raffte der armenische Arzt seine ganze verbliebene Willenskraft zusammen, stürzte sich auf einen der Männer, die ihn ergreifen wollten, und schlug mit dem Arm nach dessen Waffe. Der letzte Schuss, der durch das Dorf Kiarki hallte, erlöste Doktor Aram Antoyan von der Gefahr, sich selbst zu verraten oder die Menschen, die er liebte. Er starb den Tod eines Armeniers. Er hatte diesen Tod gesucht, sich ihm in die Arme geworfen und seinen Namen damit der langen Liste der Opfer hinzugefügt.
45 Am Morgen des 10. November wurde Anna Barnes zusammen mit ihrem Fahrer, Samvel Sarkisian, in dem Dorf Kiarki festgenommen.
Sie protestierte gegen ihre Verhaftung, erklärte, dass sie alsAmerikanerin mit einem Touristenvisum nach Armenien gekommen sei und keinerlei Verbrechen begangen habe, aber da der KG B-Major , dem sie das sagte, kein Englisch verstand, half ihr das nicht viel. Er brachte sie nach Eriwan, wo man sie im lokalen Hauptquartier des KGB in der Nalbandinsstraße festhielt, bis die
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