Das Netzwerk
dass jedes Wort und jede Geste genauestens beobachtet wurden, und als sich der Anwalt einmal ganz nahe zu ihr herüberbeugte, wich sie instinktiv zurück. Ihre Bewacher sollten nicht den Eindruck bekommen, dass er ihr etwas zugesteckt oder ins Ohr geflüstert hätte. Die Sowjets setzten sogar einen Lockvogel auf sie an, eine geschwätzige Frau in Annas Alter, die einen New Yorker Slang sprach und behauptete, sie sei in Leningrad mit ein paar Gramm Haschisch erwischt worden. Anna, der bis dahin jeglicher Kontakt mit anderen Gefangenen verwehrt gewesen war, durfte auf einmal sämtliche Mahlzeiten gemeinsam mit der redseligen Frau einnehmen. Sie versuchte alles, um sich Annas Vertrauen zu erschleichen, aber ohne Erfolg. Sie redete über Männer, sie redete über Kleider und Make-up und über die CIA. Nach einer Woche verschwand sie und kam nicht wieder.
Am meisten zermürbte Anna die simple Taktik der Sowjets, einfach Zeit verstreichen zu lassen und ihr damit das Gefühl zu geben, von aller Welt verlassen zu sein. Auf diese Weise sollte sie wohl zu der Einsicht gebracht werden, dass nur die Zusammenarbeit mit dem KGB ihr viele Jahre in einem sowjetischen Gefängnis ersparen konnte. Und während die Wochen vergingen und Annas Verlorenheitsgefühl wuchs, begann ihr Mut unweigerlich zu sinken. Die ersten paar Tage des Ringens mit dem KGB hatten sie in dem Glauben bestärkt, dass sie für ihre Gegner eine Persönlichkeit war, nun aber kam sie sich vor wie eine x-beliebige Gefangene.
Im Januar, nach zwei Monaten in Gefangenschaft, tauchte endlich wieder ein KG B-Offizier in ihrer Zelle auf. Er stellte sich als Viktor vor und war ganz anders als seine Vorgänger. Er war Ende vierzig, hatte glattes, graues Haar und die kühle Ausstrahlungeines Mathematikprofessors. Und er sprach ein fast akzentfreies Englisch. Viktor ließ von Anfang an keinen Zweifel daran, dass er zum KGB gehörte, und begann schon das erste Verhör mit einer verblüffenden Frage:
«Wissen Sie, warum Edward Stone Sie geopfert hat?», fragte er.
«Keine Ahnung, wovon Sie reden», erwiderte Anna, die vom ersten Tag an jegliche Verbindung zur CIA abgestritten hatte.
«Ich erwarte nicht, dass Sie meine Fragen beantworten», sagte der Russe. «Aber wenn Sie schon antworten, dann ersparen Sie mir bitte dumme Aussagen wie diese und schweigen lieber. So etwas beleidigt meine Intelligenz. Können wir uns darauf einigen?»
Anna sagte nichts. Aus ihrer Ausbildung erinnerte sie sich noch vage daran, dass das es zu den üblichen Verhörtechniken des KGB gehörte, Gefangene mit überraschenden Details aus einem Fall zu konfrontieren, um sie zu unüberlegten Aussagen zu verleiten. Sie versuchte, sich gegen diese Taktik zu wappnen, was aber in ihrer Situation alles andere als leicht war.
«Stone hat Sie geopfert», wiederholte der Russe. «Deshalb hat er Sie nach Armenien gehen lassen, um den armen Doktor Antoyan zu retten, und deshalb sind Sie auch nach zwei Monaten Gefängnis noch immer hier. Sie sind entbehrlich. Es tut mir leid, Ihnen das so sagen zu müssen, aber ich kann es Ihnen nicht ersparen.»
«Ich bin unschuldig im Sinne der Anklage und verlange, an die amerikanische Botschaft überstellt zu werden», sagte Anna matt. Das war einer ihrer Standardsätze, die sie bei jedem Verhör sagte.
«Ja, natürlich. Ich werde es für die Akten festhalten. Wenn es wichtig für Sie ist, das zu sagen, dann höre ich es mir gerne an. Obwohl ich es ziemlich langweilig finde.»
Viktors nachdenkliche Toleranz brachte Anna aus dem Gleichgewicht. Auf einmal fand sie es sinnlos, auch noch den Rest ihres Sermons herunterleiern, dass sie eine harmlose Touristin sei, die nur ihren armenischen Freund besuchen wollte.
«Möchten Sie vielleicht eine Tasse Kaffee?», fragte der Russe.
«Nein», erwiderte Anna.
«Schade. Ich werde jedenfalls eine trinken.» Er ging zur Zellentür und rief die Wärterin, die kurz darauf eine dampfende Tasse Kaffee brachte. Richtigen Kaffee, nicht das grässliche, wässrige Gebräu, das man als Gefangene normalerweise bekam. Ein herrlicher Duft erfüllte den kleinen Raum.
«Sie sollten wirklich versuchen, sich zu entspannen», sagte der Russe. «Es ist mir ein großes Vergnügen, mit einer von Edward Stones Mitarbeiterinnen plaudern zu können. Für uns hier ist Stone ein echter Sportsmann. Jemand, der intelligent ist, gute Arbeit macht und über uns bestens Bescheid weiß. Es ist mir eine Ehre, mit jemandem aus seiner Truppe im selben Raum sitzen
Weitere Kostenlose Bücher