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verschwunden.
Schließlich kehrte Samvel mit einem Fläschchen Kirschlimonade zurück und entschuldigte sich wortreich. Aus irgendeinem Grund, erklärte er, seien fast alle Geschäfte hier im Dorf geschlossen. Typisch. In einem armenischen Dorf wären alle Läden offen gewesen, und er hätte Pepsi-Cola für Anna kaufen können. Anna trank die Limonade langsam, ohne den Blick von der Schnellstraße zu lassen. Als die Flasche leer war, klagte sie erneut über den schmerzenden Knöchel und fragte Samvel, ob er ihr nicht etwas zu essen besorgen könne. Er warf einen Blick auf die Uhr. Es war fast zehn.
«In armenischen Dörfern gibt besseres Essen», sagte er. Er wollte endlich fort von hier.
«Bitte, Samvel, ich muss unbedingt etwas essen, bevor wir weiterfahren.»
Samvel nickte und verschwand. Anna hielt die Augen auf die Straße nach Eriwan gerichtet und musterte angestrengt die vorbeifahrenden Wagen, in der Hoffnung, Aram Antoyan darin zu entdecken. Wo in aller Welt steckte er bloß? Sie schwankte zwischen Zorn und Sorge, dann drehte sie sich um und suchte mit dem Blick die Dorfstraßen ab. Vielleicht kam er ja doch aus einer anderen Richtung? Da sah sie etwas, und ihr Herz machte einen Sprung.
Ein Stück entfernt, fast hundert Meter vor ihr, stieg ein Mann aus seinem Wagen. Er hatte an der kleinen Straße geparkt, die in der anderen Richtung aus dem Dorf hinausführte, und sein Gang, der ihr schon in Paris ans Herz gewachsen war, diese kleinen, geschickten Schritte wie bei einem bergerprobten Pferd,ließ Anna sofort an Aram denken. Der Mann näherte sich einer Häusergruppe. Anna überlegte kurz, was sie tun sollte, dann folgte sie einfach ihrem Instinkt.
Sie öffnete die Autotür und eilte rasch und ohne an das falsche Humpeln zu denken auf den Mann in der Ferne zu. Im Gehen streifte sie das Kopftuch ab, damit er sie leichter erkennen konnte. Er ging in ihre Richtung, war noch gut sechzig Meter entfernt und steuerte nach links, und je näher Anna ihm kam, desto sicherer war sie, dass es Aram sein musste. Er aber hatte sie immer noch nicht erkannt.
Anna lief schneller, sie rannte fast. Er war vor einem zweistöckigen Gebäude stehen geblieben, das etwas gediegener wirkte als die übrigen Häuser im Dorf. Großer Gott, dachte Anna. Dort musste der Schmuggler Sadeq Shirvanshir wohnen. Gleich würde Aram das Haus betreten, und alles war zu spät.
«Aram!», rief sie in den Wind hinein.
Er drehte sich um und warf ihr einen kurzen Blick zu, blieb aber derart auf seine Aufgabe konzentriert, dass er nicht weiter darauf achtete, wer ihn da beim Namen rief, und sich wieder der Haustür zuwandte.
«Aram!», rief Anna noch einmal.
Diesmal drehte er sich um, sah kurz zu ihr hin – und dann noch einmal mit völlig fassungslosem Blick. Sie waren noch knapp vierzig Meter auseinander. Anna schüttelte den Kopf und wedelte mit den Armen, um ihm pantomimisch zu bedeuten: Geh nicht hinein. Bleib weg von dort. Und bleib weg von mir.
Den ersten Teil schien er zu verstehen, den zweiten jedoch nicht. In seiner Überraschung und Freude darüber, die Frau zu sehen, die er für immer in Paris zurückgelassen zu haben glaubte, wollte er sie nur noch in die Arme schließen. Mit raschen, kurzen Schritten eilte er auf sie zu und zog sie an sich.
«
Qu’est-ce que c’est
?» Er wirkte ebenso erfreut wie überrascht. «Was hat das zu bedeuten? Warum bist du hier?»
Anna nahm ihn beim Arm und führte ihn rasch weg von Sadeq Shirvanshirs Haus, dann blieb sie stehen und sah ihn an. Er wirkte rosig und gesund, und sein Bart war wieder länger geworden. Die Heimkehr schien ihm nicht schlecht bekommen zu sein.
«Hör mir gut zu, Aram», sagte sie auf Französisch. «Es gibt Probleme mit der Lieferung. Wenn du sie jetzt abholst, bringst du dich damit in Gefahr. Ich hatte dir doch in Paris versprochen, dich zu warnen, falls etwas schiefgehen sollte. Da blieb mir nichts anderes übrig, als selbst hierherzukommen.»
Aram musterte sie kopfschüttelnd, lächelte aber dabei. «Es ist doch gar nichts schiefgegangen, du Dummerchen. Es ist alles in Ordnung.»
«Doch, es ist etwas schiefgegangen. Glaub mir. Die Leute vom KGB wissen, was meine Kollegen und ich für euch getan haben. Wahrscheinlich warten sie nur darauf, dass du die Lieferung abholst. Das Risiko darfst du nicht eingehen, sie halten dich sonst für einen Spion.»
«Aber da irrst du dich. Es besteht keinerlei Gefahr», beharrte Aram. «Wir sind alle in Sicherheit.»
«Bitte glaub
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