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verkündete, sie sollten jetzt alle eine Polonaise tanzen und Crane ihr daraufhin sofort die Hände auf die Pobacken legte, befand Stone, dass es Zeit war zu gehen. Und während er sich von den immer ausgelassener Feiernden verabschiedete, beschlich ihn ein seltsames Gefühl: Irgendwie kam ihm die Zentrale immer mehr wie ein heruntergekommenes altes Kreuzfahrtschiff vor, das ziellos auf dem Meer trieb. An Land, in den Außenposten, die immer noch als die reale Welt betrachtet wurden, bemühten sich unterdessen die Legionen des Reichs, die immer brüchigere Weltordnung aufrechtzuerhalten. Es war erbärmlich. Stone hatte einen Plan, der jedoch gerade erst begann, in den säuberlich geordneten Abteilungen seines Gehirns Gestalt anzunehmen. Bis es so weit war, musste er das traurige Schauspiel weiter mit ansehen und versuchen, sich aus den vorbei treibenden Trümmern ein paar brauchbare Stücke herauszusuchen.
8 Als Taylor George in seinem Hotel abholte, war es schon fast Mitternacht, und in der Istiklal-Caddesi wimmelte es von Zuhältern, fliegenden Händlern, Schuhputzern, Transvestiten und Männern, die politische Flugblätter verteilten. Die Istiklal-Caddesi war eine belebte Einkaufsmeile, die sich nachts in ein pulsierendes Vergnügungsviertel verwandelte.
Die kurdischen Händler fanden in der Istiklal ein kleines Stück von der ersten Welt. Wie in der Hamra-Straße in Beirut oder der Connaught Road in Hongkong, ließen auch hier die Kleidung und die zahllosen ausländischen Akzente die restriktiven Sitten und Gebräuche der Türkei vergessen. Vor hundert Jahren hatte das Viertel noch den Namen Pera getragen und den Reichtum und die Arroganz Westeuropas in den wenigen Häuserblocks auf dem Kamm der Hügelkette kompakt zur Schau gestellt. Inzwischen war es «türkischer» geworden, und in den Cafés wurde eher Bülent Ersoy als Brahms gespielt, aber der Zauber war geblieben. Für einen armen Kurden aus Erzurum im Osten der Türkei war diese kleine Enklave westlicher Kultur wie eine Offenbarung. Auch wenn er nie in seinem Leben einen Mercedes fahren würde, konnte er hier immerhin um Mitternacht auf dem Gehsteig stehen und eine Marlboro rauchen.
«Als Erstes fahren wir in die Giraffenstraße», erklärte Taylor George zur Begrüßung.
«Was soll denn das sein?»
«Das wirst du schon sehen», gab Taylor lächelnd zurück. «Und die brauchst du dort ganz bestimmt nicht», sagte er, als er bemerkte, dass George sich seine kleine Werkzeugtasche umgehängt hatte.
«Ohne mein Werkzeug gehe ich nirgendwohin», antwortete George, und Taylor verdrehte die Augen.
Der Fahrer setzte sie am Galata-Turm ab, jenem noch von den Genuesern erbauten Wahrzeichen der Stadt, das nun das Ende des Rotlichtviertels markierte. Von dort aus stiegen sie einen steilen Hügel hinab zu einem eisernen Tor, das von zwei bärbeißigen Polizisten bewacht wurde. Hinter dem Gitter sah man eine schmale Gasse voller türkischer Männer aller Altersklassen mit unterschiedlich langen Schnurrbärten. Auf dem Straßenschild stand
Zurafa Caddesi
.
«Giraffenstraße», übersetzte Taylor, während er den Polizisten zulächelte und George durch das geöffnete Tor schob.
«Und wieso heißt die so?», fragte George, während sie der leicht abfallenden Straße folgten und sich der ersten Menschentraube näherten. Als sie die Gruppe erreicht hatten, war alles klar. Mehrere Dutzend türkischer Herren reckten wie Giraffen die Hälse in die Höhe, um einen Blick auf zwei halbnackte Frauen im Fenster eines kleinen Hauses zu erhaschen.
«Das muss ich sehen», sagte George.
«Wie du meinst», erwiderte Taylor und schob seinen Freund in die erste Reihe der Gaffenden.
Vor ihnen lag ein kleiner Laden, dessen neonhelles Schaufenster gut drei Meter lang war. Hinter der Scheibe warfen sich zwei der hässlichsten Frauen, die Taylor je gesehen hatte, für die Schaulustigen in Pose. Die eine war groß und mager und trug schwarze Strumpfhosen und ein abgeschnittenes T-Shirt , unter dem ihre schlaffen Brüste hervorlugten. Die andere Frau war klein und extrem dick und nur mit einer rosa Strumpfhose bekleidet. Was für ein Anblick! Taylor betrachtete den bis zum Zerreißen gespannten rosa Nylonstoff, über den an Bauch und Rücken beachtliche Fettwülste quollen. Die seitlichen Nähte fingen bereits an, sich aufzulösen.
«Wäre die nicht was für dich?», fragte Taylor und deutete aufdie Dicke. «Kostet höchstens zwei Dollar, zuzüglich Trinkgeld und
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