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Das Netzwerk

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Titel: Das Netzwerk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Ignatius
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losgehen.» Gefolgt von George ging er nach draußen und schob sich durch die aufgebrachte Menge. Ihre Flucht schien den Unmut der türkischen Zuschauer noch anzuheizen. Ein Mann Mitte zwanzig packte George am Arm, ein anderer rammte Taylor den Ellenbogen in den Rücken. Taylor nahm George am Arm und riss ihn förmlich von der Menge fort. Als sie raschen Schrittes den Hügel zum Tor hinaufeilten, kam ihnen von oben schon ein Trupp türkischer Gendarmen entgegen, die den Tumult in der Giraffenstraße offenbar mitbekommen hatten. Taylor nickteihnen ehrerbietig zu, doch die Polizisten hatten es so eilig, dass sie ihn kaum bemerkten.
    Als sie sicher auf der anderen Seite des Tores waren, legte George Taylor den Arm um die Schultern.
    «Weißt du was, alter Junge?», sagte er. «Das war das erste und letzte Mal, dass ich mich von dir in ein Bordell habe führen lassen.»
    «Beruhig dich, Georgie», sagte Taylor. «Das war doch bloß ein Vorgeschmack auf die Geheimnisse des Orients.»
    «Ich wüsste ja gern, ob die sich den Schniedel hat abschneiden lassen.»
    «Wenn du das wirklich wissen willst, musst du fünftausend Lira auf den Tisch legen.»
    «Das könnte dir so passen!», sagte George.
    Sie gingen zurück zum Galata-Turm, wo Taylor den Fahrer weckte, der hinter dem Lenkrad eingeschlafen war.
    «Jetzt lade ich dich erst mal auf einen Drink ein, Georgie», sagte Taylor. «Die Nacht ist noch jung.»
    «Aber ich will was erleben! Echt!»
    «Ich weiß, ich weiß», sagte Taylor und schüttelte den Kopf. Sein Versagen als Kuppler war ihm peinlich. In Gedanken ging er mehrere Möglichkeiten durch, die aber allesamt weitere mögliche Katastrophen in sich bargen. «Ich hab’s», sagte er schließlich. Er gab dem Konsulatsfahrer ein paar Anweisungen und stieg dann hinten in den Wagen.
    «Wohin fahren wir jetzt?», fragte George. «Zur nächsten Schafzucht?»
    «Nein», erwiderte Taylor. «Zu Omar. Dort arbeitet eine alte Freundin von mir. Tolle Frau. Sie heißt Sonja, und du wirst ihr bestimmt gefallen.»
     
    9  In Omars Lokal herrschte dieselbe Atmosphäre wie in einem Kaffeehaus irgendwo in Taschkent oder Tbilisi. Es roch nach Tabak, türkischem Kaffee, dem süßlichen, lakritzartigen Aroma von Anis und – speziell für die weltlich gesinnten Gäste, ganz gleich, ob es nun Muslime oder Christen waren – nach Bier und Whiskey. Die Bar lag in der Nähe der Universität, oberhalb des Stadtviertels Kumkapi, wo viele Tataren, Kasachen, Usbeken, Aserbaidschaner sowie Migranten aus anderen zentralasiatischen Kleinstaaten lebten. Sie befand sich im obersten Stock eines billigen Hotels, in dem hauptsächlich Gäste aus dem Osten abstiegen, und bot einen spektakulären Blick auf den Hafen und die nächtliche Stadt: das hell erleuchtete Geschäftsviertel auf der anderen Seite des Goldenen Horns, die Positionslichter russischer Frachter im Marmarameer, die darauf warteten, dass sie die enge Durchfahrt zum Schwarzen Meer passieren durften, und dahinter die vom Mond erleuchteten Minarette der fünf Moscheen, die die Altstadt überragten.
    Der Besitzer, ein Krimtatar namens Omar Gasprali, hatte sein Lokal zu einem Treffpunkt für Intellektuelle aus dem Kaukasus und Zentralasien gemacht, und an guten Abenden konnte man dort Gäste in einem halben Dutzend verschiedener Sprachen diskutieren hören. Sie kamen zum Essen und Trinken, trugen Gedichte in ihrer Muttersprache vor, verkündeten die unveräußerlichen Rechte kleiner Völker, die keinen eigenen Staat mehr hatten, und prangerten immer wieder das Verhalten des modernen Feudalherren in ihren jeweiligen Ländern an: der Sowjetunion. Unter den usbekischen und aserbaidschanischen Intellektuellen in Istanbul galt die Regel: «Alle treffen sich bei Omar.»
    «Al-an!», tönte eine laute, stark akzentbehaftete Stimme querdurch den Raum, als Taylor das Lokal betrat. Omar Gasprali kam auf ihn zu, umarmte und küsste ihn auf beide Wangen. Er war ein großer Mann mit krausem, grauem Haar und tiefen Lachfalten im Gesicht. Taylor küsste ihn ebenfalls. Hinter dem leutseligen Tataren stand eine schlanke Tscherkessin Anfang dreißig in einem tief ausgeschnittenen Paillettenkleid. Sie trug die traurige Miene einer Diseuse zur Schau, die zu oft «I Left My Heart in San Francisco» gesungen hat – nur dass es in ihrem Fall wohl eher «I Left My Heart in Sevastopol» hätte heißen müssen.
    «Sonja», rief Omar und zog sie aus der Dunkelheit heran. «Sieh mal, wer da ist!»
    Taylor küsste auch sie

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