Das Netzwerk
Malteser Falke
.»
«Warten Sie ab, es kommt noch besser. Die osmanische Botschaft in San Remo hatte Sukuti seit Jahren überwachen lassen. Als sie von seinem Tod erfuhren, bestachen sie die Polizei, entwendeten den Koffer und schickten ihn an Sultan Abdülhamid in den Yildiz-Palast nach Istanbul. Dort blieb der Koffer bis 1909, als es den Jungtürken schließlich gelang, Abdülhamid als Sultan abzusetzen. Daraufhin durchsuchte Ibrahim Temo den Palast, fand den Koffer und nahm ihn mit zurück nach Rumänien.»
«Wo er bis heute ist.»
«Nein, nein. Das ist ja das Problem. Als Ibrahim Temo 1945 starb, vermachte er den Koffer seinem Sohn. Und als der Sohn starb, hätten die Papiere eigentlich an dessen Tochter Natalia gehen müssen. Dann hätte ich sie auch für meine Dissertation einsehen dürfen. Sie mochte mich nämlich.»
«Aber sie hatte die Papiere nicht?»
«Nein.»
«Wo sind sie denn dann?»
«In Albanien», antwortete Anna mit einem Seufzer.
«In Albanien?»
«Aus irgendeinem Grund hat die albanische Regierung irgendwann in den Fünfzigern von der Existenz der Papiere erfahren, gerade als Natalia versuchte, in die Türkei auszuwandern. Sie wollten die Unterlagen für das albanische Nationalarchiv, vermutlich, weil Temo gebürtiger Albaner war. Natalia hat mir erzählt, eines Tages hätten zwei Albaner vor ihrer Tür gestanden und den Koffer mitgenommen. Seither ist er verschwunden und verstaubt jetzt irgendwo in Tirana.»
«Dann haben Sie also nie herausgefunden, warum aus den Idealisten Mörder wurden?»
«Nein. Das war mit ein Grund, warum ich die Promotion aufgegeben habe. Ich hatte erkannt, dass ich es niemals mit Sicherheit wissen würde.»
«Was wurde aus Natalia?»
«Die Rumänen haben sie schließlich doch gehen lassen. Ende der Sechziger zog sie in die Türkei und ließ sich in diesem kleinen Haus mit den grünen Fensterläden in Beykoz nieder. Inzwischen ist sie alt. Eine abgebrühte, traurige alte Dame.»
«Und was stand in den Papieren? Haben Sie das je erfahren?»
«Ich weiß nur das, was Natalia mir erzählt hat. Sie hat sich die Unterlagen als junges Mädchen angeschaut und mit ihrem Großvater darüber gesprochen. Nach allem, was sie sagt, enthalten sie unglaubliche Dinge, unter anderem Briefwechsel zwischen den verschiedenen Abteilungen des Komitees für Einheit und Fortschritt. Codiert, um die Spione des Sultans in die Irre zu führen.»
«Was für ein Code denn?»
«Keine Ahnung. Natalia konnte sich nur noch erinnern, dass jedes Mitglied und jede Unterabteilung eine Nummer hatte. Angenommen, Paris hat die Nummer sechs, und Sie sind das einundneunzigste Mitglied der Unterabteilung Paris, dann lautet Ihre persönliche Nummer sechs/einundneunzig.»
«Kein Wunder, dass sich die Albaner so sehr dafür interessiert haben. Die sind doch ganz verrückt nach Spionen.»
«Vielleicht gab es auch noch einen anderen Grund. Natalia sagt, die Unterlagen enthielten einiges, was gewisse Leute in Moskau interessieren könnte.»
«Zum Beispiel?»
«Zum Beispiel die Tatsache, dass die Jungtürken 1905, als Sukuti starb, Teil eines Netzwerks waren, das sich über den gesamten Kaukasus bis nach Zentralasien erstreckte. Es gab Jung-Georgier in Tbilisi, Jung-Bucharer in Buchara, Jung-Turkestaner in Taschkent, Jung-Aserbaidschaner in Baku und Jung-Armenier in Eriwan. Und alle arbeiteten gemeinsam daran, die alten Herrschaftssysteme zu stürzen.»
«Na und?»
«Das bedeutet, dass die Geschichtsschreibung in diesem Teil der Welt eben nicht erst 1917 begonnen hat, wie die Sowjets gerne behaupten. Es gab schon vorher etwas. Eine ganz andere Vorstellung von Zentralasien.»
«Das ist ja alles sehr interessant», sagte Taylor. «Aber es ist auch ewig her. Daheim erinnert man sich doch kaum noch daran, was letzte Woche passiert ist. Wer soll sich da für Dinge interessieren, die fünfundsiebzig Jahre zurückliegen?»
«Niemand. Leider. Deswegen wollte ich ja irgendwann auch keine Osmanistin mehr sein. Es war Zeit, die Archive zu verlassen.»
«Na dann, willkommen im richtigen Leben.» Taylor hatte den Arm auf die Rückenlehne des Beifahrersitzes gelegt und ließ ihn jetzt wie zufällig auf Annas Schulter gleiten. Dann zog er sie zu sich heran und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Seine Hand streifte leicht ihre Brust. Anna ließ es geschehen und fragte sich, wie es wohl sein würde, mit Taylor zu schlafen, wie sich seine Hände auf ihrem Körper anfühlen würden. Inzwischen wanderte seine Hand
Weitere Kostenlose Bücher