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dass er nicht mehr aufhören konnte. Eine ganze Nacht hindurch hörte er sich die Aufzeichnungen an und hielt die Passagen, die ihn am meisten interessierten, handschriftlich fest. Was sich ihm da enthüllte, während er mit gespitzten Ohren in seinem Apartment in Arnavutköy auf dem Fußboden saß, überraschte selbst einen Neggo wie ihn, der sich angewöhnt hatte, sich niemals von irgendetwas in Staunen versetzen zu lassen: Mr. Jack Rawls, der vermeintliche Filmemacher aus British Columbia, war offenbar dabei, eine Privatarmee aus zentralasiatischen Emigranten aufzubauen. Jedenfalls hörte es sich ganz danach an.
Rawls begann jedes Gespräch auf die gleiche Weise. Zunächst dankte er dem Besucher für sein Kommen, faselte eine Weile von seinem Dokumentarfilm über sowjetische Emigranten und lenkte dann allmählich auf die Geschichte und Politik Zentralasiens, offenbar um einschätzen zu können, wie stark sich sein jeweiliger Besucher für seine Heimat engagierte. Irgendwann redete sich Rawls immer mehr in Rage, und wenn seine Besucher einstiegen und sich ebenfalls ereiferten, erinnerte das Ganze ziemlich schnell an die Erweckungsversammlung eines Fernsehpredigers.
Der erste Gesprächspartner war ein Mann, der sich Abdallah nannte. Taylor stellte ihn sich als klein gewachsenen, dunkelhäutigen Typen vor, mit hohen Wangenknochen und tief in den Höhlen liegenden Augen. Rawls begann wie üblich mit einigen Höflichkeitsfloskeln und der Anrufung Allahs, kam auf seinen Film zu sprechen und fand heraus, dass die Familie seines Gastes aus Taschkent stammte, mitten aus den endlosen Weiten des einstigen Turkestan. Dann wurde er konkreter.
«Die Russen haben Turkestan zerstückelt», verkündete Rawls in seinem Sprachkurstürkisch, und Taylor drückte die Kopfhörer fest an die Ohren, um trotz des Bandrauschens nur ja kein Wort zu verpassen. «Sie haben sich das große Turkestan, das sich einst vom Schwarzen Meer bis nach China erstreckte, einfach einverleibt, und was haben sie damit angestellt? Sie haben es zu ihrer Kolonie gemacht!»
«Wie wahr!», stimmte ihm Abdallah zu.
«Ja, mein Freund», gab Rawls zurück. «Die Russen haben das große Turkestan, das gewaltige Reich Dschingis Khans und Tamerlans zerschlagen, damit sie es besser beherrschen können. Usbekistan, Tadschikistan, Kasachstan, Turkmenistan, Kirgisistan. Fünf Länder, zu klein, um zu kämpfen. Und dann,als das große Turkestan so verstümmelt war, haben die Russen systematisch die Moscheen zerstört! Stalin hat versucht, sein Verbrechen geheim zu halten, aber ich habe die Zahlen.»
«Tatsächlich?»
«Hier, hören Sie sich das an: 1917 gab es in ganz Turkestan und dem Kaukasus noch sechsundzwanzigtausend Moscheen. Bis 1942 waren nur noch eintausenddreihundertzwölf übrig!»
«Eine Schande!», sagte Abdallah mit bebender Stimme.
«Und wissen Sie, wie die Russen die Söhne des edlen Turkestan heute nennen?
Tschernoschopij
, was so viel wie ‹Schwarzärsche› bedeutet.»
«Diese Hunde!»
«Oder sie schimpfen sie
Tschurka
– ‹Holzspäne›! Begreifen Sie? Die Russen denken, Ihre jungen Männer sind dumm wie Holzspäne.»
«Allah!»
«Die Söhne Ihres edlen Landes! Schwarzärsche und Holzspäne!»
«
Yok
! Wir müssen ihnen eine Lektion erteilen!»
«Richtig. Aber wir müssen vorsichtig sein.»
«Und was sollen wir machen?» Die Stimme des Emigranten hatte den erwartungsvollen Unterton eines Gläubigen, der einer Offenbarung harrt.
«Vielleicht können meine Freunde Ihnen helfen», erwiderte Rawls langsam.
«Was sind das für Freunde?»
«Freunde in Amerika.»
«Die CIA?»
«Sprechen Sie dieses Wort nicht aus! Niemals! Ich sagte doch, dass Sie vorsichtig sein müssen.»
«Träume ich etwa?», rief Abdallah. «Soll das heißen, Sie sindendlich bereit, uns zu helfen? Mein ganzes Leben lang warte ich schon darauf!»
«Mein Freund, das große Turkestan ist die letzte Kolonie der Welt. Wann wurde Algerien befreit? Vor zwanzig Jahren. Und Kenia, der Kongo, all die anderen kleinen Länder Schwarzafrikas ebenfalls. Nur das große Turkestan wartet immer noch, aber seine Zeit wird kommen.»
«Allah!», rief Abdallah mit lauter Stimme. «Endlich kommen Sie uns zu Hilfe!»
Das restliche Gespräch beschränkte sich darauf, dass Rawls seinen Besucher auf strengste Verschwiegenheit einschwor und ihm einschärfte, niemandem – absolut niemandem – von ihrer Unterhaltung zu erzählen. «Freiheit für Turkestan!», sagte Rawls, als sie sich
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