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Zeit.›»
Taylor grinste. «Hey, schöne Frau, machen wir uns eine gute Zeit.»
«Bilden Sie sich mal nicht zu viel ein.» Anna zog den Mantel enger um sich. Die Sonne stand jetzt tiefer am Himmel, es wurde kühler.
«Und wer kam nach Tom?»
«Niemand», sagte Anna.
«Niemand?»
«Das letzte Jahr über war ich viel zu beschäftigt, um über eineneue Beziehung nachzudenken. Außerdem ist es nicht ganz leicht, aufrichtig und offen mit jemandem zu sein, wenn man so viele Geheimnisse hat wie unsereins.»
«Wer sagt denn, dass man aufrichtig sein muss?», fragte Taylor. «Die meisten unserer Kollegen lügen wie gedruckt und haben trotzdem jede Menge Sex.»
«Mag sein», sagte Anna. «Aber die Vorstellung törnt mich nicht gerade an.»
Taylor schwieg einen Augenblick, dann sagte er: «Immerhin haben wir eines gemeinsam.»
«Ach ja?»
«Wir fangen beide schnell an, uns zu langweilen.»
Es wurde schon dunkel, als sie nach Istanbul zurückfuhren. Das Reden und das Bier hatten beide entspannt, und die Atmosphäre war erotisch aufgeladen, wie schwüle Luft vor einem Gewitter. Sie sprachen nicht darüber und unternahmen auch nichts, spürten es aber beide. Als sie Beykoz durchquerten, bemerkte Anna draußen ein Haus und stupste Taylor an.
«Da war ich schon mal», sagte sie. «Dort, in dem kleinen Haus am Wasser mit den grünen Fensterläden.»
«Ja? Wann?»
«Vor zwei Jahren. Als ich noch an der Uni war und hier für meine Doktorarbeit recherchiert habe.»
«Wer wohnt denn da?»
«Eine exzentrische alte Dame namens Natalia Temo.»
«Und wie haben Sie sie kennengelernt?»
«Ein türkischer Professor hat uns einander vorgestellt. Er dachte, sie hätte ein paar alte Dokumente, die mich interessieren könnten, aber dann hat sich herausgestellt, dass er sich geirrt hatte.»
«Was waren das für Dokumente? Falls man das als Nicht-Osmanist überhaupt versteht.»
«Es klang alles ziemlich toll. Die Frau war die Enkelin eines albanischen Arztes namens Ibrahim Temo, der Ende des neunzehnten Jahrhunderts zu den Begründern des Komitees für Einheit und Fortschritt gehörte.»
«Das wir Laien unter dem Namen ‹Jungtürken› kennen.»
«Genau», bestätigte Anna. «Ich habe mich für Temo interessiert, weil er 1889 zusammen mit drei weiteren Medizinstudenten am ersten Treffen der Gruppe teilgenommen hat. Die anderen drei waren Mehmed Resid, ein Tschirkesse aus dem Kaukasus, Abdullah Cevdet, ein Kurde aus Arabkir, und Ishal Sukuti, der ebenfalls Kurde war und aus Diyarbakir stammte. Das war die große Zeit der Jungtürken.»
«Wie können Sie sich das bloß alles merken?»
«Ich habe ein gutes Gedächtnis für historische Nebensächlichkeiten, das war schließlich Teil meiner Arbeit. Aber egal, jedenfalls wollte ich an die Aufzeichnungen der Gruppe rankommen. Ich brauchte sie für ein Kapitel meiner Dissertation, das sich mit der Frage befassen sollte, warum die Jungtürken ihre Ideale aufgegeben haben. Ich wollte herausfinden, was da schiefgelaufen war, wie es überhaupt sein konnte, dass die Mitglieder einer so fortschrittlichen Gruppierung sich 1915 plötzlich in einen Haufen Mörder verwandelten. Deshalb habe ich Natalia Temo besucht. Und sie hat mir eine ganz erstaunliche Geschichte erzählt. Fast schon eine Art Kriminalfall.»
«Erzählen Sie», sagte Taylor. «Ich liebe Krimis. Die haben genau das richtige Tempo für mich.»
«Also gut. Es ist allerdings ein bisschen kompliziert. Angefangen hat es damit, dass die Gründungsmitglieder der Gruppe beschlossen, ihre gesammelten Aufzeichnungen Sukuti zu übergeben,der als Archivar fungieren sollte. Temo schickte ihm all seine Papiere, bis er 1895 nach Rumänien fliehen musste. Einige Zeit später war auch Sukuti gezwungen, ins Exil zu gehen, und nahm die Papiere mit nach San Remo, an die italienische Riviera.» Anna sah Taylor von der Seite an. «Finden Sie das nicht langweilig?»
«Nein», antwortete er. «Überhaupt nicht. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie schön es ist, mal nicht über Berufliches zu reden.»
«Wenn Sie meinen», sagte sie zögernd und nahm ihre Erzählung wieder auf. «Sukuti blieb bis 1905 in San Remo, dann erkrankte er schwer. Er wusste, dass er sterben würde, deshalb schickte er alle wichtigen Papiere zu Temo nach Rumänien. Er packte sie in einen Koffer und kündigte Temo dessen Ankunft brieflich an. Doch dann starb er, ehe er den Koffer losschicken konnte.»
«Großartig», kommentierte Taylor. «Das klingt ja wie
Der
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