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Das Netzwerk

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Titel: Das Netzwerk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Ignatius
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verabschiedeten.
    «Freiheit für Turkestan!», wiederholte Abdallah.
    Taylor spulte das Band zum nächsten Gespräch vor. Dieses Mal wollte Rawls’ Besucher seinen Namen nicht nennen. Im Verlauf der Unterhaltung wurde jedoch deutlich, dass es sich um einen der so genannten Terekeme-Türken handelte, deren Familien 1944 von Georgien nach Usbekistan deportiert worden waren. Rawls spielte geradezu virtuos mit ihm. Je länger Taylor zuhörte, desto mehr beeindruckte ihn Rawls’ Agentengeschick.
    «Woher stammt Ihre Familie, mein Freund?», begann Rawls überaus behutsam.
    «Aus der Nähe von Achalkalaki in Südgeorgien.»
    «Und dort sprachen Sie Türkisch?»
    «Ja, Türkisch. Immer Türkisch. Bis 1935, als sie uns sagten, wir seien Aserbaidschaner und müssten diese Sprache lernen. Niemand wusste, warum, aber damals stellte man keine Fragen.»
    «Und was geschah 1944?»
    «Meine Familie wurde weggebracht.»
    «Wohin?»
    «Nach Usbekistan, in die Nähe von Farg’ona. Eingepfercht in Viehwaggons.»
    «Und viele starben dabei?»
    «Ja, sehr viele. Meine Tante starb. Mein Bruder starb.» Er hielt inne und holte tief Luft. «Und meine Mutter starb. Vollkommen sinnlos. Was hatte sie getan? Was hatte überhaupt jemand von uns getan? Warum haben sie uns mitten in der Nacht so fortgeschafft, tausend Kilometer von unserem Zuhause fort, ohne jeden Grund?»
    «Das war Völkermord.»
    «Ja, das war es», sagte der Besucher. «Aber die Welt weiß nichts davon.»
    «Da irren Sie sich», entgegnete Rawls. «Wir wissen davon, und wir haben es nicht vergessen.»
    «Wer ist ‹wir›?»
    «Meine Freunde in Amerika. Wir haben Belege dafür. Wir wissen, dass in der Nacht vom 15.   November 1944 zweihunderttausend Terekeme-Türken aus Georgien deportiert wurden. Wir wissen, dass auf dem Weg nach Usbekistan und Kasachstan mindestens fünfzigtausend dieser Menschen starben. Und wir wissen auch, warum.»
    «Wirklich?» Der Besucher klang verwirrt, als hätte der Kanadier gerade in Aussicht gestellt, ihm den Sinn des Lebens zu erklären.
    «Ihre Familie und die vieler tausend anderer muslimischer Türken aus dem Süden Georgiens wurden deportiert, weil Stalin die Provinzen Kars und Ardahan in der Osttürkei stehlen wollte, von denen er behauptete, dass sie zur Sowjetunion gehören. Und er wollte natürlich nicht, dass ein mit den Türkenverwandtes Volk ihm dabei in die Quere kam. Deshalb wurden alle deportiert. Von einem Tag auf den anderen. Dass fünfzigtausend von euch dabei krepiert sind – was machte das Stalin schon aus? Ihr wart ja nur ein paar armselige Türken! Er konnte gut auf euch verzichten.»
    «Was für ein Ungeheuer! Was für ein Verbrechen!»
    «Meine Freunde sind der Meinung, darauf gibt es nur eine Antwort.»
    «Und welche?»
    «Freiheit für Turkestan!»
    Der Terekeme-Türke sog scharf die Luft ein, als könnte er angesichts dieser berauschenden Vorstellung nicht mehr normal atmen. «Freiheit für Turkestan!», wiederholte er, als wären diese Worte für ihn ein neu gefundenes Lebenselexir.
    «Vielleicht ist das der Weg, den Völkermord an den Terekeme-Türken zu rächen und ihre Rechte zu schützen.»
    «Freiheit für Turkestan!», wiederholte der Mann noch einmal.
    «Aber nur eine starke Bewegung kann Turkestan von den russischen Herrschern befreien und für die Sicherheit seiner Bevölkerung sorgen, vom Schwarzen Meer bis nach Sinkiang!»
    «Ist das denn überhaupt möglich?»
    «Ich weiß es nicht. Aber meine Freunde in Amerika könnten uns vielleicht helfen.»
    In ähnlicher Weise verliefen alle Gespräche mit dem halben Dutzend Besucher, die Rawls in seiner Wohnung in Beyazit aufsuchten – nur dass er bei jedem einzelnen von ihnen einen etwas anderen Ton anschlug. Mit dem Krimtataren beklagte er Stalins Irrsinn, ein ganzes Volk – die Söhne und Töchter der Krim – zu Verrätern der Sowjetunion abzustempeln, mit dem Tschetschenen die Tragödie seiner verlorenen, ausgeplünderten Heimat,und mit dem Usbeken empörte er sich darüber, wie diese Barbaren aus Moskau den schönen Aralsee, das Juwel Zentralasiens, ausgebeutet und zerstört hätten.
    Doch bei jedem Gespräch stellte Rawls irgendwann einmal dieselbe Frage: Gehörten sie einer der Sufi-Bruderschaften an? Waren sie Naqschbandi oder Qadiri, Yasawi oder Kubrawi? Hatten sie die heiligen Orte besucht? Das Schahi-Sinda-Mausoleum in Samarkand, wo Kusam ibn Abbas begraben liegt, der «lebende König», der in der Schlacht enthauptet wurde und seinen Kopf mitnahm

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