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Das Netzwerk

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Titel: Das Netzwerk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Ignatius
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«befragt» wie zu Abdülhamids Zeiten.
    «Bei uns gibt es ein Sprichwort», sagte Serif. «Wenn du deine Kinder nicht schlägst, schlägst du dich am Ende selbst.»
    «Das werde ich mir merken», erwiderte Taylor. «Ach, ich wollte Sie noch etwas fragen, bevor ich gehe.»
    «Was denn?», fragte Serif.
    «Haben Sie jemals die Parole ‹Freiheit für Turkestan› gehört?»
    Serif kniff die Augen zusammen. «Sagen Sie das noch einmal.»
    «‹Freiheit für Turkestan›. Ist Ihnen schon mal eine Emigrantenorganisation untergekommen, die eine solche Parole verwendet?»
    «Emigrantenorganisationen gibt es in Istanbul wie Sand am Meer. Früher hat jeder Kellner im Restaurant Rejans eine gegründet, aber heute sind es nicht mehr ganz so viele.»
    «Interessiert Turkestan die Türken überhaupt noch?»
    «Natürlich!», erwiderte Serif. Er fühlte sich in seiner Würde verletzt. «Meine eigene Familie stammt von der Krim. Aus Bachtschyssaraj.»
    «Und deshalb trauern Sie dem alten Turkestan nach?»
    «Aber ja! Wir alle haben unser verlorenes Großreich nicht vergessen. Auch dazu gibt es bei uns ein geflügeltes Wort.»
    «Und wie lautet das?»
    «Wir sagen: Vom Mittelmeer bis zum Pazifik sollte man nichts anderes sprechen müssen als Türkisch.»
    «Und Kebab essen.»
    «Verzeihung, was sagten Sie?»
    «Nichts.»
    «Weshalb fragen Sie mich nach Turkestan?»
    «Reine Neugier. Weil mir wie gesagt kürzlich diese Parole untergekommen ist: ‹Freiheit für Turkestan›. Da habe ich mich gefragt, ob man so etwas heutzutage noch ernst nehmen kann.»
    «Wer? Der MIT?»
    Taylor nickte.
    «Das darf ich Ihnen natürlich nicht sagen.»
    «Natürlich nicht», erwiderte Taylor. «Aber was würden Sie sagen, wenn Sie dürften?»
    «Hmmm», machte der Türke, die Mundwinkel leicht nach oben gezogen. Es war kein Lächeln, aber viel fehlte nicht. «Ich würde sagen, dass man es nicht ernst nehmen muss. Das ist ein Spiel für alte Männer und die Kellner vom Rejans. Damit haben wir nichts mehr zu tun.»
     
    Anfang April platzte in diesen Alltagstrott der Geheimdienstarbeit die Rückantwort hinein, auf die Taylor gewartet hatte. Sie kam in Form einer seltsamen Mitteilung aus der Zentrale, die über einen streng geheimen, separat geführten Kanal geschickt wurde. Die Nachricht kam von Edward Stone. Er informierte Taylor, dass er in einer Woche für einen Tag nach Istanbul kommen und sich mit ihm treffen wolle. Taylor, so schrieb Stone, solle sich schon mal einen sicheren Ort für ihr Gespräch überlegen.
     
    19  In so gut wie jeder amerikanischen Regierungsbehörde gab es ein paar Leute vom Schlag Edward Stones. Es waren die ewigen Untersekretäre, die Großmeister der Bürokratie, die Welle um Welle reformwütiger Politiker überstanden hatten und unverdrossen dafür sorgten, dass die jeweilige Behörde ihre eigentlichen Aufgaben nicht aus den Augen verlor. Die Macht von Stone und seinesgleichen beruhte unter anderem darauf, dass sie lebende Denkmäler aus der Gründerzeit ihrer Behördenwaren und deren bürokratische Kultur ebenso verkörperten wie ihre Mythen und Traditionen.
    Die meisten amerikanischen Bundesbehörden wurden in den 1930er Jahren gegründet, in der Zeit des New-Deal-Liberalismus. So findet man beispielsweise an den Gebäuden großer Ministerien in Washington wie dem Landwirtschaftsministerium, dem Innenministerium oder dem Justizministerium als Andenken an diese Epoche noch die riesigen Wandgemälde, auf denen Arbeiter und Farmer, Polizisten und Ladeninhaber dargestellt sind, all die kleinen, fleißigen Leute, die damals am großen Siegeszug der amerikanischen Sozialdemokratie teilnahmen. Falls Amerika sich wirklich einmal dazu entschließen sollte, sich vom Ethos eines Walt Whitman, eines Felix Frankfurter und eines Franklin D.   Roosevelt zu verabschieden, dann müsste man als allererstes diese Wandgemälde übertünchen.
    Die Central Intelligence Agency war das Produkt einer etwas anderen Zeit und eines etwas anderen Ethos. Sie ging in den Jahren unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem militärischen Geheimdienst OSS hervor, und der Geist, aus dem sie sich speiste, war elitär, nicht proletarisch. Und so ähnelte die Zentrale, die sie sich in Virginia bauen ließ, in ihrer schmucklosen Nüchternheit den modernen Gebäuden auf dem Campus einer Eliteuniversität wie Yale oder Harvard. Die Gründerväter der CIA wären niemals auf die Idee gekommen, ein Wandgemälde in Auftrag zu geben, das irgendwelche

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