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Stadt musste man einfach vom Wasser aus betrachten: Der Blick auf die Skyline über dem Bosporus gehörte zu den spektakulärsten auf der ganzen Welt. Während die Fähre das tintenschwarze Wasser durchpflügte, stand Taylor oben an Deck und zählte die Minarette der fünf großen Moscheen, die von der Morgensonne in ein rosa Licht getaucht wurden.
«Salep! Salep! Salep!», rief ein fliegender Händler, der sich durch die Menge auf dem überfüllten Achterdeck drängte. Dasheiße Getränk, das er verkaufte, war ein schäumendes, mit Zimt gewürztes Gebräu aus Milch und Salepwurzel. Taylor kaufte sich ein Glas und trank es genussvoll, während sich die Fähre immer weiter vom prachtvollen, aber heruntergekommenen alten Istanbul entfernte und auf das Wirrwarr moderner Gebäude auf der anderen Seite des Bosporus zusteuerte.
EXCHASE war eine ziemlich traurige Gestalt, ein stets ernst dreinblickender junger Mann mit rötlichem Haar und ebensolcher Gesichtsfarbe und verschlafen wirkenden Augen. Auch er trug den Hängeschnurrbart der Linken, allerdings in einer relativ kurzen Sparversion. Bülent, der an der Universität von Wyoming seinen Doktor in Politikwissenschaft gemacht hatte, litt hauptsächlich darunter, dass er viel zu amerikanisiert war. Nun, als er die Stelle in Istanbul angetreten hatte, fühlte er sich in seiner alten Heimat ziemlich unwohl und nicht genügend anerkannt. Wahrscheinlich spionierte er nur deshalb für die USA, weil er sich selbst bestätigen wollte, dass er mit dem erbärmlichen Durcheinander des Lebens in der Türkei nichts zu schaffen hatte.
«Warum kommen Sie zu spät, Bülent?», fragte Taylor, als der Türke in dem sicheren Haus ankam. Er hatte sich zwar nur eine Viertelstunde verspätet, aber Taylor rügte ihn trotzdem. Als Agent durfte man niemals zu spät kommen.
«Ich habe Angst», sagte der Bülent.
«Warum?»
«Weil es gefährlich wird an der Universität.»
«Für wen?»
«Für alle. Meine Studenten haben sogar Angst davor, sich eine Zeitung zu kaufen. In bestimmten Vierteln habe ich das auch.»
«Wieso denn das?», fragte Taylor und überlegte, ob EX-CHASE langsam die Nerven verlor.
«Weil man sich gewaltigen Ärger einhandeln kann, wenn mandie falsche Zeitung am falschen Ort kauft. Wenn in einer rechten Gegend ein Rechter sieht, dass ich mir die
Cumhuriyet
kaufe, greift er mich vielleicht an. Deshalb deute ich am Zeitungsstand immer nur auf die Zeitung, die ich haben will, und sage nie laut ihren Namen. Und wenn der Mann sie mir dann gibt, falte ich sie so, dass niemand sehen kann, welche es ist. Ich gehe lieber auf Nummer sicher.»
«Das ist doch grotesk.»
Bülent machte ein gekränktes Gesicht. «Es ist erst letzte Woche wieder passiert», sagte er ernst. «In der Nähe der Universität in Beyazit. Ein Rechter hat sich eine Tercüman gekauft, und ein Linker hat ihn dabei beobachtet und auf ihn geschossen.»
«Geschossen?»
«Was denken Sie? Heute haben alle an der Universität eine Waffe bei sich. Außer die Frauen, natürlich.»
«Natürlich.»
«Entschuldigung, das stimmt doch nicht ganz. Bei den Maoisten haben sogar die Frauen Waffen. Aber die sind auch dick und hässlich und gehen ständig mit anderen Maoisten ins Bett. Bei uns an der Universität sagt man: Je weiter links die Frauen stehen, desto hässlicher sind sie – und umso leichter bekommt man sie ins Bett.»
«Wo ich studiert habe, gab es den gleichen Spruch», sagte Taylor.
Bülent entkam nicht das leiseste Lächeln. Er war wirklich ein sehr ernsthafter junger Mann.
«Apropos Waffen», hakte Taylor nach. «Wissen Sie, woher die kommen?»
«Aus Bulgarien, schätze ich», erklärte Bülent, der aus früheren Gesprächen über dieses Thema entnommen hatte, dass dies die gewünschte Antwort war.
«Woher wissen Sie das? Haben Sie sich Seriennummern notiert?»
Bülent schüttelte den Kopf.
«Warum nicht?»
«Es war nicht möglich.»
«Wieso denn?»
Bülent machte ein bedrücktes Gesicht. Seine Unterlippe begann leicht zu zittern. «Weil so was zu gefährlich ist für mich», erwiderte er leise.
«Aber das ist Ihr Job.»
«Ich weiß. Aber wenn ich mich zu sehr für die Waffen interessiere, glauben die anderen, dass ich ein Spion bin, und bringen mich um.»
«Davor haben Sie also Angst.»
«Ja. Ich habe Angst. Tut mir leid.»
Taylor hatte Mitleid mit dem jungen Universitätsdozenten. «Kopf hoch», sagte er und klopfte ihm auf die Schulter.
«Danke», erwiderte Bülent.
Taylor wechselte
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