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Das Netzwerk

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Titel: Das Netzwerk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Ignatius
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sagte Serif und deutete hinaus auf den Palast. «Er wusste, wie man mit Unruhestiftern umgeht.»
    «Stimmt, er hat sie abschlachten lassen», wagte Taylor einzuwerfen. «So wie die Armenier.»
    Serif kniff missbilligend die Augen zusammen.
    «War nur ein Scherz.»
    «Der Sultan hatte viele Fehler», fuhr Serif ohne zu lächeln fort, «aber er hat den ersten modernen Geheimdienst aufgebaut.»
    «Hm», brummte Taylor. Das war sehr vornehm ausgedrückt. In Wirklichkeit war Abdülhamid schlicht und einfach paranoid gewesen. Er hatte solche Angst vor Attentätern, dass er nur ganz selten seinen Palast verließ. In jedem seiner Zimmer hatte er einen geladenen Revolver, und auf dem Gelände gab es hundert Käfige mit Papageien, deren Gekreisch vor Eindringlingen warnen sollte. Milch trank der Sultan nur, wenn sie von seinen eigenen Kühen stammte, die rund um die Uhr bewacht wurden, und bevor er sich ein Kleidungsstück anzog, musste sein BruderIsset es anlegen und testen, ob es nicht vergiftet war. Kurz gesagt, er litt unter ziemlich massivem Verfolgungswahn.
    «Wissen Sie eigentlich, was das Geheimnis von Abdülhamids erfolgreicher Geheimdienstarbeit war?», fragte Serif, nur um die Frage gleich selbst zu beantworten: «Er verwendete modernste Technik.»
    Taylor warf ihm einen erstaunten Blick zu, sagte aber nichts.
    «Es ist wahr! Der Sultan steuerte sein über ganz Europa verteiltes Agentennetz mit Hilfe von verschlüsselten Telegrammen, und um bessere Informationen über sein eigenes Reich zu bekommen, schickte er ein ganzes Heer von Fotografen aus. Eines von Abdülhamids Fotoalben habe ich hier in meinem Büro.»
    «Wirklich?», sagte Taylor, um Interesse vorzutäuschen. Sich Fotoalben anzusehen, zu Atatürks Geburtstag Grüße zu schicken, sich die ewig gleichen Geschichten über die verblichene Größe des Osmanischen Reichs anzuhören gehörte im Umgang mit den Verbindungsleuten beim türkischen Geheimdienst nun mal zum guten Ton.
    «Wollen Sie es sich ansehen?», fragte Serif hoffnungsvoll.
    «Natürlich.»
    Aus einer Schublade seines Schreibtisches holte er ein dickes Album mit alten Fotografien hervor, von denen jede in einem mit kunstvoll verschnörkelten Ornamenten und mit Abdülhamids
tughra
bedruckten Papierrahmen steckte. Das Album glich einem penibel aufgebauten Katalog und war damit genau das Richtige für einen paranoiden Sultan, der sich nicht mehr aus seinem Palast herausbewegte. Taylor fiel auf, dass auf den Fotos fast ausschließlich uniformierte Personen zu sehen waren: Feuerwehrmänner, Polizisten, Soldaten und Matrosen, die alle stolz in die Kamera blickten; Schuljungen in Tuniken mit Goldknöpfen und kleinen Fesen auf dem Kopf; Fechter und Turnerbeim Sport; Medizinstudenten in doppelreihigen Mänteln, die hinter halbsezierten Leichen posierten. Dieses Album, dachte Taylor, zeigte wieder einmal ganz deutlich die türkische Leidenschaft für Ordnung: Alle Fotos waren streng nach Kategorien getrennt und innerhalb dieser Kategorien wiederum penibel geordnet. Den Türken war es fast gleichgültig, womit sie sich beschäftigten, Hauptsache, die Dinge ließen sich hübsch ordentlich arrangieren. Selbst bei einem türkischen Fischhändler kann man diesen Ordnungssinn bewundern: Hübsch aneinandergereiht werden da die Fische präsentiert, große neben großen und kleine neben kleinen, und alle in schnurgeraden Reihen mit stets in die gleiche Richtung zeigenden Köpfen. Sie waren wirklich disziplinierte und willensstarke Leute, diese Türken, die manchmal vielleicht ein bisschen paranoid waren.
    «Schöne Fotos», meinte Taylor. «Aber schlechte Geheimdienstarbeit. Wenn der Sultan nur diese Bilder gekannt hat, dann muss er geglaubt haben, sein Reich sei in bester Verfassung.»
    «Das hat er aber nicht geglaubt», erwiderte Serif. «Die Tatsache, dass offenbar alles in Ordnung war, hat ihn nur in seiner Überzeugung bestärkt, dass seine Feinde noch viel hinterhältiger waren, als er gedacht hatte. Also ließ er noch mehr Spione anwerben!»
    Taylor nickte. Auch heute noch war das die übliche Reaktion der Türken. Wenn der MIT nicht genügend Informationen über Terroristen bekam, dann rekrutierte er eben noch ein paar Dutzend Spitzel mehr, die dann in Kaffeehäusern der Linken herumhingen. Außerdem «verhörte» er die Linken und Kurden noch intensiver als sonst. Auch das war eine Eigenheit der türkischen Geheimdienstarbeit: Gefangene wurden nach wie vor mit denselben, nicht zimperlichen Methoden

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