Das neue Evangelium
Handschrift des Matthäus, die Originalhandschrift. Und darin soll so manches stehen, das keinen Eingang in das Neue Testament gefunden hat.«
»Deshalb reist ihr zum Barnabas-Kloster!«, stieß Jesus hervor. »Jetzt wird mir alles klar. Es wird mir klar, warum man euch beobachtet, es wird mir klar, weshalb…«
»Man beobachtet uns?«, fragte Henri. »Wer beobachtet uns? Wovon sprichst du?«
Jesus schlug sich die Hand vor den Mund. »Ach, nichts. Ich hörte es aus dem Geschwätz der Straße heraus, ich hätte nicht davon sprechen sollen. Vergesst es! Es ist Gerede wie anderes Gerede auch!«
Henri und Uthman tauschten einen vielsagenden Blick.
Ludolf sagte: »Zypern steht unter französischem Einfluss. Hier ist jeder verdächtig, der ankommt. Ich selbst wurde tagelang observiert, bis man mich ins Rathaus lud, wo ich meine Reisepläne offen legen musste. So ist es beinahe selbstverständlich, dass man euch, die ihr mit einem eigentlich unverdächtigen Handelsschiff hierher gekommen seid, ebenfalls beobachtet.«
»Man hat uns also in Lapethos observiert?«, fragte Henri.
»Davon könnt ihr ausgehen«, sagte Jesus de Burgos. »Seitdem ihr das Deck dieser Nef verlassen habt. Handelsschiff hin oder her. Der Konnetabel von Lapethos ist ein strenger und ein feiger Mann. Er hat Angst, Fehler zu machen, denn er hat seine Karriere im Blick.«
»Also beschäftigt er Hunderte von Spitzeln, die jeden Hund beschatten. Es könnte ja ein Staatsfeind sein!«
Henri blickte Ludolf an und musste lachen. Bisher hatte der Pilger noch nicht gezeigt, dass er Humor besaß. Ludolf versank wieder in Gedanken.
»Was ihr erzählt, ist jedenfalls sehr aufregend«, meinte Jesus de Burgos. »Ein neues Evangelium! Ich werde euch in dieses Kloster folgen, wo man den erschlagenen Barnabas verehrt. Ich will mit eigenen Augen sehen, worum es sich handelt und was es für Folgen haben kann. Denn die Gefahr bannt man nur, indem man sich ihr stellt.«
»Jeder alte Text aus dem Umkreis Jesu«, sagte Henri, »gehört zum bleibenden Schatz der Menschheit. Die Evangelien, die Paulusbriefe, die siebenundzwanzig anderen Kapitel des Neuen Testamentes gehören dazu. Wenn ein neuer, echter Text auftaucht, müssen wir uns seiner Wahrheit stellen. Aber ich gestehe es – ich habe Angst davor. Vor allem, weil Ludolf gewisse Andeutungen gemacht hat.«
»Was für Andeutungen?«, fragte Jesus.
»Ich hörte auch nur aus zweiter Hand davon«, wiegelte Ludolf ab. »Warten wir besser, bis wir genau wissen, was wir vorfinden.«
»Was für Andeutungen?«, wiederholte Jesus seine Frage jetzt in schärferem Ton.
Verwundert sah Ludolf den Spanier an. »Wartet ab, bis Ihr die Schrift seht! Ich kann nicht mehr sagen!«
»Seht euch vor«, sagte Jesus plötzlich heftig. »Spielt nicht mit gewissen Dingen! Warum tut ihr das? Es ist gefährlich! Wer hat etwas davon, wenn die vertrauten Dinge umgestoßen werden, weil angeblich neue auftauchen?«
»Niemand will etwas umstoßen, Jesus«, sagte Ludolf. »Ebenso wenig behauptet man, die Schreiber der Evangelien seien Betrüger oder Fälscher gewesen oder gar von Satanas beauftragte Antichristen. Die vier Evangelisten haben tatsächlich gelebt, wahrscheinlich standen sie den damals weit verbreiteten jüdischen Schreibzentren vor, in denen Tausende Papyrusrollen beschrieben wurden. Vielleicht waren es Auftragsarbeiten, damit der Nachwelt solche Dokumente erhalten bleiben sollten. Der Evangelist Lukas beispielsweise widmete sein Evangelium und auch die Fortsetzung davon, die Apostelgeschichte, einem römischen Staatsbeamten, der sie also wahrscheinlich in Auftrag gegeben und bezahlt hatte.«
»So schnöde muss man sich das vorstellen?«, fragte Sean enttäuscht. »Ich dachte immer, schon die Evangelisten seien heilige Personen gewesen.«
»Es waren wahrscheinlich Menschen wie du und ich«, sagte Ludolf.
»Das weiß niemand«, meinte Jesus verärgert. »Ebenso wenig wissen wir, wann die Texte entstanden. Wir können nur spekulieren, und ich frage mich, wozu das gut sein soll. Zu tieferem Glauben führt es jedenfalls nicht.«
»Und damit sollten wir es gut sein lassen«, schlug Madeleine vor. »Man kann Dinge auch zerreden.«
»Sie hat Recht«, meinte auch Uthman. »Aber es ist immerhin erstaunlich, wie wenig die Christen über ihre eigene Geschichte wissen. Wir Rechtgläubige kennen das Leben unseres Propheten und seine Offenbarungen ganz genau. Wir müssen uns nicht darüber streiten.«
»Dafür streitet ihr euch über
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