Das neue Evangelium
habe von den Mönchen in Nikosia davon erfahren, das habe ich ja erzählt.«
»Ja, aber hattest du vorher schon geahnt, dass es eine solche Schrift geben könnte?«
»Ja, Sean. In der Kirche von Alexandria kannte man ein solches Evangelium. Und man hielt es für echt. Die Schrift wurde auch mehrmals von dem Kirchenlehrer Irenäus in seinen Werken erwähnt. Jeder, der es lesen wollte, konnte das tun.«
»Wer war dieser Irenäus?«
»Ein bedeutender Mensch! Er stammt aus Smyrna in Kleinasien und lebte im zweiten Jahrhundert nach unserem Herrn Jesus. Er entging der Verfolgung und wurde später Bischof von Lyon. Er lehrte, dass Gott sich im Menschen Jesu offenbart, er also die Inkarnation Gottes ist; Jesus ist der zweite Adam und bringt die Schöpfung zur Vollendung. Verstehst du das?«
»Natürlich! Aber was ist mit der Schrift des Barnabas?«
»Irenäus hielt sie für sehr bedeutend. Er machte sie überhaupt erst bekannt, so viel ich weiß!«
»Irgendwann wurde es dann aber verworfen, nicht wahr?«
»Auf dem Konzil von Nizäa. Nun gab es auch Anhänger des Islam, die behaupteten, in den Händen des heiligen Barnabas habe man, als das Grab geöffnet wurde, ein von ihm eigenhändig geschriebenes Exemplar seines Evangeliums gefunden – und keine Abschrift des Matthäus-Evangeliums, wie die Christen es behaupteten. Aufgrund der Beschlüsse durch das Konzil von Nizäa im Jahr 325 wurde dieses Manuskript dann aus dem Verkehr gezogen.«
»Wer soll das alles verstehen?«, fragte Sean verstört.
»Verworren, nicht wahr? Viel wurde vertuscht und verdreht. Für mich geht es deshalb darum, der Wahrheit näher zu kommen.«
»Hoffentlich ist es keine schlimme Wahrheit«, meinte Sean.
Es ging stetig bergan, bis die Reisegruppe auf einem kahlen Gipfel stand und in Richtung Osten das Meer sah. Die Stadt Salamis schmiegte sich weiß und flach wie ein Weizenfladen in die Bucht. Sie waren am Ziel ihrer Reise angekommen.
Am nächsten Tag würden sie an der Straße von Salamis nach Enkomi das Kloster des Barnabas erreichen und das neue Evangelium sehen.
Die Gefährten ritten an einer Gräberstadt vorbei. Ludolf wusste, dass hier das antike Salamis lag, das die Römer erbaut hatten. Die neue Stadt Salamis lag näher zum Meer hin. In den weißen Ruinen hatten Menschen neue Gebäude errichtet. Aber die zerborstenen Mauern und Säulen, das überall sprießende Unkraut, wild wachsender Fenchel und die Wurzeln knorriger Bäume, die aus dem Gestein wuchsen, zeugten davon, dass auch das neue Salamis eine längst verstorbene Stadt war.
Ludolf erzählte den Gefährten, dass es einst die größte Stadt Zyperns gewesen war. Sie wurde durch Erdbeben zerstört, dann von den Römern wieder aufgebaut, aber schließlich erneut von muslimischen Heeren zerstört. Alle Religionen hatten hier gesiedelt, gebaut und waren wieder vertrieben worden. Salamis besaß eine bewegte Geschichte.
Die Reisenden passierten Akazien- und Eukalyptushaine und sahen Landarbeiter auf den Feldern Fenchel ernten. Es gab demnach immer noch Leben in dieser toten Stadt. Als sie nach Süden weiterritten, lag das blaue Meer wie eine Verheißung vor ihnen. In Richtung Enkomi schlugen lang laufende weiße Wellen an den flachen Strand, auf der Straße nach Enkomi und weiter nach Famagusta waren viele Karren und Fuhrwerke zu sehen.
Henri wusste von dem Kloster nur wenig. Einst hatte Bischof Anthemios in einem Traum die Botschaft empfangen, dass hier die Gebeine des Apostels Barnabas lägen. Dies bestärkte den Anspruch der zypriotischen Kirche auf Unabhängigkeit vom Patriarchat in Antiochia. In diesem Moment kamen die vielen Rundkuppeln des Klosters auch schon in Sicht.
Inmitten ausgedehnter, sich bis zum Meer hinabstreckender Wiesen lag der Bau aus streng verfugten grauen Basaltsteinen. Die Kuppeln glänzten im Sonnenlicht. Der Glockenturm ragte hart und kantig in die Höhe, bekrönt von einem Doppelkreuz. Auf allen Mauern hockten schwarze Vögel, die Henri an Totenvögel erinnerten. Plötzlich ertönten die hellen Glocken der Klosterkirche, und die Vögel stoben davon.
Sie ritten näher. An der Klosterpforte öffnete ihnen einer der orthodoxen Mönche im schwarzen Habit. Der Mönch hatte einen langen Bart und lange Haare, auf denen eine zylindrische Kopfbedeckung saß. Er wirkte streng und blickte ernst. Die Reisenden erkundigten sich bei ihm nach den Möglichkeiten der Unterbringung.
»Die Armenspeisung beginnt Schlag Mittag«, sagte der Mönch in
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