Das neue Evangelium
andere Dinge!«, wandte Henri ein.
»Worüber denn, mein Henri?«
»Beispielsweise darüber, ob die sunna des Propheten Mohammed, seine Gewohnheiten und Aussprüche, das Entscheidende ist oder die familiären Bindungen, die Blutsverwandtschaft. Ob Aischa und die Sunniten das Wichtigste sind oder Ali, der Neffe des Propheten, und seine Schiiten. Wer führt die einzig richtige Tradition fort?«
»Wir wissen es nicht«, bekannte Uthman. »Jeder Muslim hat darüber seine eigenen Ansichten.«
»Siehst du!«, sagte Henri. »Der Islam ist insofern also keineswegs weiser als das Christentum.«
»Das behauptest du, mein Henri!«, sagte Uthman.
»Ja«, entgegnete Henri lapidar.
Und damit beendeten die Reisenden die Unterhaltung. Sie schlugen ihr Lager auf und legten sich zum Schlafen nieder.
Nur Uthman blieb wach, nachdem er sich wortlos mit Henri verständigt hatte. Er setzte sich an einen Baum und behielt Jesus im Auge. Alle anderen blickten noch lange in den Himmel, in dem ein einziger Gott wohnte, der für sie alle da war. Dann schliefen sie ein.
Die Sichel des zunehmenden Mondes zog auf. Und die Stille der Nacht breitete sich um sie herum aus.
4
Ende Februar 1320. Über das Messaoria
Der Weg wurde immer beschwerlicher. Sie erreichten vor dem Gebirge von Messaoria eine ausgedehnte Schwemmsandebene. Hier befanden sich große Vogelkolonien, bei jedem Schritt stoben Vogelschwärme auf. Die Pferde konnten nur langsam gehen, denn sie sanken mit den Hufen in den weichen Boden ein. Einmal brach Ludolfs Pferd in die Knie, der Pilger rutschte aus dem Sattel und fiel zu Boden. Henri hörte seinen Schrei und sah, wie Ludolf langsam im Schwemmsand versank. In seinem Gesicht stand pure Todesangst.
Henri riss sich gedankenschnell den Überwurf vom Leib und sprang Ludolf zu Hilfe. Es gelang ihm, dem Versinkenden den Überwurf zuzuwerfen und ihn auf festen Grund zu ziehen. Hier saßen sie einen Moment lang schwer atmend, während die Gefährten schon weit vorausgeritten waren und nichts von dem Vorfall bemerkt hatten.
»Was hältst du von Jesus de Burgos?«, fragte Ludolf, als er wieder zu Atem gekommen war und sich die Kleider säuberte.
»Worauf willst du hinaus?«, fragte Henri zurück.
»Ich werde nicht schlau aus ihm. Er vertritt keine Standpunkte, redet immer herum, mal dieses, mal jenes. So, als wolle er nicht anecken und nichts von sich preisgeben. Er ist mir unheimlich.«
»Das bildest du dir ein, Ludolf! Er scheint mir einfach unsicher zu sein, das stimmt, als suche er nach den richtigen Worten. Aber das macht ihn nicht verdächtig. Obwohl ich zugebe, dass ich anfangs auch argwöhnisch war, ich habe mich mit Uthman sogar verabredet, nachts ein Auge auf ihn zu werfen. Aber ich denke, wir tun ihm Unrecht.«
»Gebe Gott, dass du Recht hast, Henri. Da, die anderen haben bemerkt, was passiert ist.«
»Lass uns aufsitzen und zu ihnen aufschließen!«, schlug Henri vor. Er winkte den Gefährten, die in der Ebene lange Schatten warfen und sich gegen den hellen Himmel wie schmale Statuen abhoben, beruhigend zu.
Als sie weiterritten, kamen sie in den fruchtbaren Teil der Ebene von Messaoria. Hier hatten die französischen Adelsfamilien Zuckerrohr und Baumwolle angepflanzt, die von gebückt arbeitenden Frauen abgeerntet wurden.
Eine kleine Kirche am Rand der ausgedehnten Felder war zu Ehren des heiligen Mamas geweiht. Sie suchten das Gotteshaus auf. Inmitten der Kirche stand eine Statue mit acht unbedeckten Brüsten – ein irritierendes Bild. Die Gefährten machten einen längeren Halt, um zu beten. Uthman rollte hinter der Kirche seinen Gebetsteppich Richtung Osten aus und sprach im Geiste mit Allah, dem Allerbarmer. Er fühlte, wie er seiner Heimat Syrien immer näher kam. Nur das östliche Mittelmeer trennte ihn noch davon.
Am Ende der Ebene begann das Gebirge, das bis in den Himmel aufzuragen schien. Die Gipfel waren kahl, aber auf halber Höhe zogen sich dichte Wälder dahin. Uthman erlegte einen Hirsch mit seinem Schwert, das er zu diesem Zweck wie eine Lanze durch die Luft warf. Die Reisenden zerlegten das Tier und brieten das Fleisch abends am Feuer. Uthman selbst aß allerdings nichts davon.
Am nächsten Morgen ging es weiter. Sean ritt an der Seite Ludolfs. Mit leiser Stimme, sodass die anderen ihn nicht hörten, befragte er ihn zu dem geheimnisvollen Barnabas-Evangelium.
»Es ist keine Erfindung von dir, nicht wahr? Dieses neue Evangelium gibt es wirklich.«
»Ich weiß es nicht. Ich
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