Das neue Evangelium
Morgengrauen ab.«
»Wenn ihr Ketzer seid, die einen Aufruhr gegen die orthodoxe Amtskirche planen, dann seid ihr des Teufels!«, fauchte der Mönch. »Und dann hetze ich euch die Behörden auf den Hals!«
Henri hielt den Atem an. Er ermahnte sich, vorsichtig zu sein, denn er trug die Verantwortung für seine Gefährten. Er blickte auf Ludolf, der einen verlegenen Eindruck machte, und sagte dann mit ruhiger Bestimmtheit:
»Ich habe mit diesem Papyrus nichts zu tun. Wenn dieses neue Evangelium Dinge enthalten sollte, die unseren Glauben in Frage stellen, dann bin ich davon genau so betroffen wie jeder rechtschaffene Christ. Hütet euch davor, Menschen zu verdächtigen, die ihr nicht kennt!«
»Aber versteht doch«, sagte der Mönch beinahe flehentlich. »Wir sind in höchster Sorge. Ein solches Evangelium kann von Satan selbst in die Welt gesetzt worden sein! Und seine bösen Engel bereiten überall den Boden vor für den Umsturz! Schon verdunkelt sich ja der Himmel, und es beginnt zu regnen und zu stürmen! Wir haben Angst! Ist es nicht verständlich, dass wir in euch Boten des Bösen sehen, die gekommen sind, die Lügen des neuen Evangeliums zu verbreiten?«
»Das mag verständlich sein. Aber ich sage euch, wir haben mit diesen Dingen nichts zu tun. Gebt euch damit zufrieden.«
»Das genügt uns nicht!«
Henri holte tief Luft. »Wir reisen mit Ludolf von Suchen, er kann euch erzählen, was es mit diesem neuen Evangelium auf sich hat. Er erfuhr zuerst davon. Was mich betrifft, ich suche im Kloster des Barnabas Ruhe und Frieden. Ich befinde mich auf einer Pilgerreise, denn ich fühle mich diesem Apostel aus verschiedenen Gründen eng verbunden. Das wird euch genügen müssen. Und nun, gute Nacht!«
Henri machte auf dem Absatz kehrt und ließ die Gruppe stehen. Auch Ludolf würdigte er keines Blickes mehr.
Aber Henri fand während der restlichen Nacht nicht mehr in den Schlaf. Er fragte sich ständig, ob seine Ankunft in Zypern zu ebendieser Zeit womöglich kein Zufall war. Hatte Gott, der Herr, oder eine andere Macht – Henri wagte nicht daran zu denken, welche das sein konnte – ihn dazu auserkoren, ein Todesengel zu sein? War er, ohne es zu ahnen, der Bote einer neuen, unheiligen Zeit?
Henri erschauerte. Nein, so hatte er sich seinen Aufenthalt auf Zypern, dem letzten Stützpunkt seines geliebten Tempelordens, nicht vorgestellt.
2
Februar 1320. Auf schwankendem Boden
Als die Gefährten am nächsten Morgen Weiterreisen wollten, war die Sonne bereits aufgegangen. Man wartete noch auf Ludolf von Suchen und fragte sich, ob der Pilger vielleicht allein aufgebrochen war, weil er Vorwürfe von Henri fürchtete. Henri schickte den Sohn des Wirtes als Boten ins Kloster, um sich nach Ludolfs Verbleib zu erkundigen. Während sie warteten, besprachen sie noch einmal die Lage. Henri überlegte, ob er auf den Besuch des Klosters nicht verzichten sollte, um weitere Unruhe zu vermeiden. Aber Joshua bestärkte ihn in seiner Absicht.
»Wenn du dich prüfst, dann weißt du in deinem Herzen, dass du mit diesen Dingen um das mysteriöse Evangelium nichts zu tun hast, Henri«, sagte er. »Also lasse dich davon nicht abbringen. Es sähe wie ein Schuldeingeständnis aus.«
»Und ich bin auch sehr neugierig auf das Kloster – ganz gleich, welche Geheimnisse es bergen mag«, gestand Henri. »Immerhin befinde ich mich auf Pilgerschaft.«
Während die Freunde sich unterhielten, ging Uthman hinaus. Er setzte sich auf eine Bank vor das Gasthaus und blinzelte in die Sonne. Er dachte darüber nach, was der Pilger von den syrischen Händlern erzählt hatte. Konnte er Kontakt mit ihnen aufnehmen, damit sie ihn auf ihren Schiffen in die Heimat brachten? Uthman beschloss, es in Famagusta zu versuchen, in dem großen Hafen, der an der Ostküste lag, Syrien am nächsten.
Als Uthman aufblickte, trat ein Fremder auf ihn zu. Uthman kannte ihn nicht. Er war groß und hager, ein weißes Tuch verdeckte Frisur und Stirn.
»Gott zum Gruß!«, sagte der Fremde.
Uthman nickte freundlich und blickte den Mann arglos an.
»Ich sah dich hier sitzen«, sagte dieser.
»Mit Verlaub, das ist keine Kunst, ich genieße die Sonne«, erwiderte Uthman.
»Es ist keine Sünde, durchaus nicht«, sagte der Fremde. »Den Winter über hat sie nicht häufig geschienen.«
»Ja, ja, das Wetter«, sagte Uthman ein wenig spöttisch.
»Du – du siehst so sarazenisch aus«, sagte der Fremde plötzlich mit einem leicht drohenden Unterton in
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