Das neue Evangelium
aber auch sie kannten sie noch nicht. Und vielleicht ist es kein Zufall, dass sie hier, auf Zypern, auftaucht. Denn diese Insel ist die vornehmste und reichste Insel, mit den gläubigsten Menschen, nicht zu vergleichen mit anderen Inseln des Meeres, und wegen ihrer Fruchtbarkeit auch nicht zu vergleichen mit anderen Orten rund um das Mittelmeer. Hier konnten sich Traditionen bewahren, weil hierher die größten und besten Geister Zuflucht gesucht und sich gegenseitig befruchtet haben. Die Kämpfe liegen jedenfalls lange zurück.«
»So lange ist das nicht her«, wandte Henri ein. »Nicht einmal eine ganze Generation.«
»Nun, es liegt zumindest weit genug zurück, um vergessen und vergangen zu sein«, sagte Ludolf von Suchen. »Und ich freue mich, dass ich nun Begleiter bekommen habe! Wir können unterwegs noch ausgiebig darüber sprechen, was uns im Kloster des heiligen Barnabas erwartet!«
Henri wusste noch nicht, wie er die Nachricht des Pilgers bewerten sollte. Eine neue Schrift des Apostels, die alles auf den Kopf stellte? War das nicht beängstigend? War es nicht besser, man achtete gar nicht darauf und glaubte an das, was man bisher wusste?
Henri schüttelte den Kopf, er war kein Revolutionär, der alles verändern wollte. Je älter er wurde, desto mehr schätzte er das Beständige. Er wollte festhalten, was ihm blieb.
Der Pilger ahnte, was in ihm vorging. Er fasste ihn am Arm und führte ihn mit sich. »Keine Angst vor der neuen Wahrheit! Sie wird den Ruhm unseres Herrn im Himmel nur stärken! Denn seine Macht ist unendlich! Vielleicht schwächt sie die Macht des irdischen Papstes und seiner ganzen Sippschaft – aber wäre das so schlimm, von Schmarotzern befreit zu werden?«
»Woher kommst du, Ludolf? Und warum interessieren dich diese Dinge?«
Ludolf lächelte breit. »Ich stamme eigentlich aus dem deutschen Westfalen, lebe aber seit zwanzig Jahren an der Grenze zu Frankreich. Zypern besaß für mich schon immer einen ganz besonderen Reiz. Es ist so schön und so reich – einzigartig! Einmal hörte ich in der Heimat, dass ein Bürger seine Tochter nach Zypern verlobte. Die Ritter, die sie begleiteten, sagten, dass die Juwelen in ihrem Haarschmuck kostbarer seien als aller Schmuck der Königin von Frankreich. Und dann diese Anekdote: Ein Kaufmann aus Famagusta verkauft an den Sultan ein königliches Golddiadem mit nicht weniger als vier kostbaren Edelsteinen, einem Rubin, einem Smaragd, einem Saphir und einer Perle, für sechzigtausend Florin, doch sogleich bereut er das Geschäft und will das Diadem für einhunderttausend Florin zurückkaufen! Solche Anekdoten hörte ich immer mit Begeisterung. Denn ich liebe reiche Länder und reiche Städte!«
Henri war Reichtum gleichgültig, er verstellte nur den Zugang zum Reichtum des Himmels. Er wollte zu Ludolfs Worten eigentlich schweigen, entgegnete dann aber doch:
»Verzeih, aber für einen Pilger scheinst du ein ungewöhnlich starkes Interesse an irdischen Gütern zu hegen!«
»Aber nein«, wehrte Ludolf ab, »ich selbst besitze gar nichts! Aber ich höre gerne Geschichten vom Reichtum! Dagegen höre ich nichts gern, was mit Not und Armut zu tun hat.«
»Ich verstehe nicht, warum Zypern in den letzten Jahrzehnten derart zu Reichtum gekommen sein soll«, meinte Henri. »Als wir im Jahr des Herrn 1291 hierher kamen, war das Land arm – abgesehen von den prachtvollen Kirchen gab es nichts als unfruchtbaren Boden und viele Schafe.«
»Nun, das kommt daher, dass die Handelsschiffe aus dem Westen nicht mehr wagen, woanders als in Zypern ihre Geschäfte zu tätigen. Auch die Handelsschiffe aus Syrien kommen hierher. So machen die ehemaligen Feinde von gestern heute gute Geschäfte miteinander. Der Heilige Vater selbst drohte nämlich allen Kaufleuten mit der Exkommunikation, wenn sie nicht in Zypern anlegen, damit sollen sie Buße dafür tun, dass sie damals, als Akkon im Heiligen Land fiel, den Überlebenden nicht mit ihrer Flotte geholfen, sondern nur an ihre Geschäfte gedacht haben.«
»Ich weiß, welche Sünden die christlichen Händler damals begangen haben«, sagte Henri. »Ich habe es selbst miterlebt.«
»Weil Syrien, nur getrennt vom Meer, in der Nähe von Famagusta liegt«, erklärte der Pilger weiter, »schickten die islamischen Händler in den letzten Jahren ihre Waren nach Zypern. Um deren Verkauf kümmern sich hier spezielle Agenten. Die Schiffe aus Venedig, Genua, Florenz, Pisa und Katalonien werden nur noch hier beladen und fahren
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