Das neue Evangelium
zurück in ihre Heimat.«
»Vielleicht entdeckt mein Gefährte Uthman bekannte Gesichter unter den Syrern«, sagte Henri.
»Ist er Syrer?«
»Er war einst ein sarazenischer Krieger. Heute ist er ein Schriftgelehrter aus Cordoba.«
»Ich würde mich freuen, ihn kennen zu lernen. Und auch, seine Meinung zu dem neuen Evangelium zu hören! Denn es ist in arabischer Sprache abgefasst, und ein Araber kann uns sicher am zuverlässigsten sagen, was dort genau steht. Ich erwarte jedenfalls ungeheure Erkenntnisse! Ich spüre, dass die Dinge wieder in Bewegung kommen.«
Henri fühlte sich plötzlich unbehaglich. Was Ludolf ansprach, wollte er nicht wirklich hören. Er hatte keine Lust, seinen Glauben in Zweifel zu ziehen.
Doch dann gab Henri sich einen Ruck. Was veranlasste ihn bloß, so etwas zu denken? Konnte das Evangelium des Barnabas etwas verkünden, was die anderen Evangelisten nicht bereits verkündet hatten?
Wovor hatte er Angst?
Jedenfalls war es ein merkwürdiger Zufall, dass er den Plan gefasst hatte, zum Barnabas-Kloster zu reisen, ohne von der geheimnisvollen Schrift gewusst zu haben.
Henri fühlte sich irritiert – und war darüber sehr beunruhigt.
Der Pilger übernachtete am Stadtrand in einem Kloster der Georgsbrüder. Am nächsten Morgen zum Sonnenaufgang wollten sich die Gefährten mit ihm treffen, um ihre Reise zusammen mit ihm fortzusetzen. Ihr jüdischer Freund Joshua würde sich dann von ihnen verabschieden.
Die Gefährten verbrachten den Abend und die halbe Nacht in angespannter Erwartung. Sie spürten, dass statt der ersehnten ruhigen und erholsamen Zeit auf dieser Mittelmeerinsel ein neues Abenteuer auf sie wartete. Und vielleicht ging es diesmal um etwas, das bedeutender war als alles, was sie bisher erlebt hatten.
Mitten in der Nacht hörten sie Rufe vor ihren Fenstern. Als Henri, der sich mit Sean ein Zimmer teilte, herausschaute und auf die Straße blickte, sah er Ludolf, der von fünf aufgeregten Mönchen begleitet wurde. Henri fragte den Pilger nach dem Grund der späten Störung, doch statt ihm zu antworten, bat Ludolf, hinaufkommen zu dürfen.
»Ich komme hinunter, sonst weckt ihr noch alle Gäste auf«, sagte Henri.
Als er unten stand, stellte ihm Ludolf die Mönche vom Georgsorden vor. Ihr Anführer, ein braun gebrannter, kräftig gewachsener Mann, sprach französisch. Er erklärte Henri, weshalb sie in heller Aufregung waren.
»Wir fragen uns, wer ihr seid! Ihr seid Fremde, und in deiner Begleitung befinden sich ein Ungläubiger und ein Jude! Und du kommst von weit her, um dieses Kloster im Norden aufzusuchen! Und zur gleichen Zeit taucht diese Schrift auf, die alles in Frage stellt, was wir bislang glaubten! Was habt ihr mit dieser Sache zu schaffen?«
Henri schüttelte den Kopf. »Nichts. Ich wusste bis zum heutigen Tag nichts von dieser Schrift, von der ihr sprecht. Ich habe erst durch Ludolf davon erfahren. Fragt ihn! Alles, was ich von der Schrift des Barnabas weiß, weiß ich von ihm.«
»Das sollen wir euch glauben? Ist es nicht vielmehr so, dass ihr aus geheimen Quellen von der Existenz dieser Schrift wisst und sie sehen und anbeten und damit ketzerisch die Kirchenfundamente ins Wanken bringen wollt?«
Henri blickte Ludolf von Suchen an. »Hast du ihnen einen solchen Unsinn erzählt?«
Der Pilger blickte sehr ernst. »Nein, natürlich nicht. Wir sprachen über unverfängliche Dinge, über den Reichtum dieser Insel, über sagenhafte Schätze in den Katakomben der Kirchen und Klöster. Plötzlich kam die Rede auf das Kloster des heiligen Barnabas, und die Mönche gerieten außer sich.«
»Ist das die Wahrheit?«, fragte Henri den Anführer streng.
»Die Wahrheit, die Wahrheit! Was ist die Wahrheit? Wenn Gott, der Herr, die Posaunen zum Jüngsten Gericht blasen lässt, dann erfahren wir die ganze Wahrheit. Vorher nicht.«
»Eine sybillinische Antwort, Mönch«, sagte Henri wütend, »ich schätze es nicht, verdächtigt und angefeindet zu werden. Geht zurück in eure Klosterzellen. Wir sind rechtschaffene Leute und wollen in Ruhe schlafen.«
»So schwört Ihr bei Gott, dass es keinen Zusammenhang gibt zwischen Eurer Absicht, das Kloster des unglückseligen Barnabas aufzusuchen, und dem plötzlichen Auftauchen dieser ominösen Schrift?«
»Ich muss mich nicht verteidigen und nichts beschwören«, erwiderte Henri.
»Es würde uns aber beruhigen«, sagte der Mönch. »Und es würde euren weiteren Aufenthalt erleichtern.«
»Wie meint Ihr das? Wir reisen im
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