Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition)
widerlegbar sein, wenn man nämlich genau die Ereignisse findet, die die Theorie nicht erlaubt.
Poppers Lieblingsbeispiel für eine gute wissenschaftliche Theorie war Albert Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie, die unter anderem behauptet, dass Lichtstrahlen in der Nähe von schweren Körpern, zum Beispiel der Sonne, gebogen werden. Diese Aussage lässt sich während einer Sonnenfinsternis überprüfen. Wenn ein Stern am Himmel dicht neben der Sonne steht, so sollte sein Licht leicht verbogen sein. Dadurch würde er scheinbar an einer anderen Stelle stehen als ohne Lichtverbiegung. Es gibt also ziemlich viele Stellen, an denen der Stern der Allgemeinen Relativitätstheorie zufolge nicht stehen darf. Und tatsächlich: Bei einer Sonnenfinsternis im Jahr 1919 fand man den Stern genau dort, wo ihn die Allgemeine Relativitätstheorie vorhersagt, und nicht etwa ganz woanders – die Theorie hat den Test bestanden. Das heißt nicht, dass sie stimmt, denn beweisen kann man Theorien nun mal nicht, aber sie hat mit ihrer Vorhersage Poppers Kriterium für Wissenschaftlichkeit erfüllt.
Um mit Poppers Hilfe eine Pseudowissenschaft zu entlarven, müsste man ihren Vertreter etwa Folgendes fragen: Welches Ereignis müsste eintreten, damit du deine Theorie aufgibst? Wenn er dann keine Antwort hat, sind seine Behauptungen nicht mehr ernst zu nehmen. Mit dieser Frage kann man vermutlich viel Freude haben, wenn man sie den richtigen Leuten stellt, man versuche es zum Beispiel mit Anhängern der Psychoanalyse oder des Marxismus, zwei Theorien, die von Popper selbst als Pseudowissenschaft eingestuft wurden. Oder mit Hellsehern, obwohl die sicher schon vorher wissen, dass die Frage kommen wird.
Aber die Pseudo-Anwälte sind noch lange nicht am Ende. Sie könnten darauf verweisen, dass Wissenschaftler ihre Theorien keinesfalls sofort aufgeben, nur weil ein paar neue Fakten dagegen sprechen. Man nennt diese Fakten dann einfach «Anomalie», heftet sie ordentlich ab und macht erst mal weiter. Schließlich könnte das vermeintliche Faktum auch ein Messfehler sein, eine optische Täuschung oder sonst irgendetwas Unschönes. Dafür gleich die Theorie zu opfern, kommt nicht in Frage. Wissenschaftler arbeiten oft über lange Zeitabschnitte mit so einer Kombination aus einem Paradigma, das nicht in Frage gestellt wird, und einer Sammlung aus seltsamen Fakten, die nicht so gut zum Paradigma passen. «Wissenschaftler haben eine dicke Haut», wie der ungarische Philosoph Imre Lakatos im Jahr 1973 anmerkte.
Lakatos erklärte auch gleich, wie dieser Schutz der Theorien vor Popper’scher Widerlegung funktioniert. Man baut rings um die Theorie einen Verteidigungsring aus Hilfshypothesen auf, die die Theorie am Leben erhalten. Wenn man einen flachen Igel sieht, wird man die beliebte Theorie «Alle Igel sind dreidimensional» nicht gleich über Bord werfen, sondern eine Hilfshypothese aufstellen, die etwas mit Autos und rücksichtslosen Igelhassern zu tun hat. Es gibt, so Lakatos, keine einzige Theorie, die nicht widerlegt ist. Aber was ist dann der Unterschied zur Pseudowissenschaft?
Für Lakatos produziert ordentliche Wissenschaft im Unterschied zu ihren Pseudovertretern «neuartige Fakten». Ein Beispiel: Im Jahr 1705 sagte Edmond Halley mit Hilfe von Newtons Gravitationstheorie voraus, dass der Komet, der später nach ihm benannt wurde, in regelmäßigen Abständen an der Erde vorbeikommen und im Jahr 1758 wieder erscheinen werde. Bis dahin hielt man Kometen für Erscheinungen in der Atmosphäre oder für Himmelskörper, die auf einer geraden Bahn ein einziges Mal an der Erde vorbeifliegen und anschließend für immer im Weltall verschwinden. Ohne Newtons Theorie, die die Bahnbewegungen von Himmelskörpern erklärt, wäre niemand auf die Idee gekommen, im Jahr 1758 nach einem Kometen Ausschau zu halten. Edmond Halley war zu diesem Zeitpunkt zwar schon tot, aber seine Prognose war ganz klar ein großartiger Erfolg. So etwas haben Astrologen bisher nicht hingekriegt. Weniger großartig ist eine Theorie, die den Fakten hinterherhinkt und neu zurechtgebogen werden muss, um mit ihnen klarzukommen.
Wenn man die von Lakatos vorgeschlagene Unterscheidung ernst nimmt, muss man sich eingestehen, dass jede gute Wissenschaft auch als Unfug betrieben werden kann; es ist nicht der Inhalt, sondern die Methode, die den Wissenschaftler vom Pseudowissenschaftler unterscheidet. Jemand, der sich mit Parapsychologie befasst, ist nicht automatisch ein
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