Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition)
auftaucht. Paper ganz oben in der Liste werden zweimal so häufig zitiert wie solche, die weiter unten stehen, zum Teil wohl, weil die Leute beim täglichen Durchlesen der Liste allmählich die Aufmerksamkeit verlieren. In der Astronomie korreliert die Anzahl der Zitate außerdem mit der Länge des Papers, mit der Anzahl der Coautoren und vermutlich auch mit der Sonnenfleckenaktivität, wobei Letzteres noch niemand überprüft hat.
Alle diese Effekte haben natürlich überhaupt nichts mit der Qualität der Wissenschaft zu tun. Zitate sind schön und praktisch, zum Beispiel wenn man damit angeben will, dass der eigene h-Index größer ist als der eines unbeliebten Kollegen. Oder wenn es drei Uhr nachmittags ist, man 1000 Bewerbungen vor sich liegen hat und bis morgen entscheiden muss, wem man die Stelle gibt, aber gleichzeitig um fünf zum Synchronschwimmen verabredet ist. Man schlägt einfach ein paar Zahlen nach, und mit ziemlicher Sicherheit hat man einen fleißigen und produktiven Wissenschaftler gefunden. Aber nicht notwendigerweise einen guten Wissenschaftler, also einen, der dauerhaftes Qualitätswissen in die Welt zerrt. Einen, dessen Porträt noch Jahrhunderte später in den Gängen der Universitäten hängt. Um so jemanden zu finden, müsste man zunächst wissen, was gute Wissenschaft ist, womit wir wieder am Anfang angekommen sind.
Angesichts dieser erheblichen Schwierigkeiten könnte man auf die Idee kommen, es wäre besser, mit dieser ganzen fragwürdigen Wissenschaft erst mal aufzuhören, bis wir genauer wissen, wie sie eigentlich ablaufen soll. Was auch wieder nicht geht, denn um herauszufinden, welche Art Wissenschaft gut und welche schlecht ist, benötigt man ein paar Jahrhunderte Wissenschaft, die man untersuchen kann. Selbst wenn Forscher nur Unsinn produzieren und überhaupt nichts über die Welt herausfinden, wenigstens dienen sie zukünftigen Generationen als Anschauungsmaterial. Das muss als Trost reichen.
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Zeit
Die Betrachtung der Zeit auf intellektuelle, philosophische oder auch nur mathematische Kriteria hin ist Einfalt und ein Zeitvertreib für Liederjane.
Flann O’Brien, «Aus Dalkeys Archiven», Übersetzung von Harry Rowohlt
«Ein Zeitvertreib für Liederjane» sei die Betrachtung der Zeit, so behauptet das Eingangszitat, ohne Frage eine harte und in ihrer Pauschalität ungerechte Einschätzung. Aber verstehen kann man den fiktiven irischen Superwissenschaftler de Selby, dem das Zitat in den Mund gelegt wird, ist doch die Betrachtung der Zeit eine der größten intellektuellen Turnübungen, die man sich zumuten kann, und leicht gerät man dabei in den Verdacht, ein Scharlatan zu sein.
In der menschlichen Wahrnehmung ist die Zeit in drei Teile gegliedert, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die Gegenwart, in der wir die Welt direkt wahrnehmen, ist der Übergang zwischen Vergangenheit und Zukunft. Für uns sieht es so aus, als wäre die Zukunft eine leere Kiste, die wir in der Gegenwart mit irgendwelchen Erfahrungen füllen und dann als Vergangenheit abstellen. Während die Vergangenheit als starr und unveränderlich gilt, scheint die Zukunft noch offen zu sein. Das jedenfalls ist unsere Wahrnehmung von Zeit, inwieweit sie etwas mit der Wirklichkeit zu tun hat, ist unklar.
Seit ein paar tausend Jahren wird darüber gestritten, ob und in welcher Form es Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wirklich gibt. Die eine philosophische Extremposition heißt Präsentismus – es gibt nur die Gegenwart. Macht es Sinn zu sagen, dass historische Personen, zum Beispiel Napoleon, immer existieren? Für Präsentisten in der Tradition von Augustinus lautet die Anwort: Nein, Napoleon existiert nicht, nur Gegenwärtiges gibt es wirklich. Wem das zu absurd ist, der sollte sich mit dem alternativen Szenario befassen, das in der Philosophie Eternalismus heißt und unter anderem auf Aristoteles zurückgeht: Zeit ist – wie der dreidimensionale Raum – ein statisches Gebilde, eine Abfolge von Momentaufnahmen, die alle gleichberechtigt und ewig existieren. Es gibt Napoleon, aber genauso auch unsere Urururenkel, die natürlich auf dem Mars wohnen. Wir können sie vielleicht gerade nicht sehen oder besuchen, aber es gibt sie trotzdem.
Was beim Eternalismus wegfällt, ist das Vergehen der Zeit. Zeit ist kein Fluss mehr, sondern ein unveränderliches Gebilde, in dem alles schon da ist, Zukünftiges wie Vergangenes. Unser Eindruck vom Ablaufen der Zeit ist entweder eine Illusion
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