Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition)
Scharlatan. Man muss sich genau ansehen, wie er vorgeht und was er den ganzen Tag so treibt.
In eine ähnliche Kerbe schlägt Paul Thagard, ein kanadischer Philosoph, ein paar Jahre nach Lakatos. Eine wissenschaftliche Disziplin ist unseriös, so Thagard, wenn sie keine Fortschritte macht. Sie hat jede Menge offene Fragen herumliegen, aber ihre Vertreter sehen nicht so aus, als gäben sie sich große Mühe, die Probleme zu lösen oder ihre Theorien mit denen anderer Leute in Einklang zu bringen. Wieder geht es hier eher um das Verhalten des Wissenschaftlers und weniger darum, womit er sich gerade befasst. Astrologie ist nicht deshalb Humbug, weil die Idee, dass die relative Position von Himmelskörpern zum Zeitpunkt der Geburt eines Menschen etwas über seine Zukunft aussagt, ganz offensichtlich falsch ist. Sie ist Humbug, weil sie sich kaum weiterentwickelt und keinen Versuch unternimmt, ihre Grundsätze mit all den anderen schönen Dingen zu vereinen, die wir in den letzten paar tausend Jahren über Himmelskörper und die Psychologie von Menschen gelernt haben.
Wenn Pseudo, unser Anwalt der Astrologie und aller artverwandten Disziplinen, an einer ernsthaften Diskussion interessiert wäre, könnte er jetzt Thomas Kuhn zitieren, einen amerikanischen Physiker, der vor allem durch das 1962 erschienene Buch «Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen» bekannt wurde. Die meiste Zeit, so würde Kuhn sagen, kümmert sich ein Wissenschaftler weder um Fortschritt noch um «neuartige Fakten» noch um die Widerlegung von Theorien. Stattdessen sitzt er still in der Ecke und löst Probleme – im Rahmen einer etablierten Theorie, die er nicht in Frage stellt. Ab und zu kommt es zu einer Revolution, und die eine herrschende Theorie wird durch eine andere ersetzt. Dann wieder zurück in die Ecke.
Pseudos letzter Schachzug könnte darin bestehen, das 1970 erschienene Buch «Wider den Methodenzwang» des Österreichers Paul Feyerabend hervorzuholen und zu behaupten, dass es so etwas wie eine wissenschaftliche Methode überhaupt nicht gibt. «Anything goes», sagt Feyerabend, und jede Methode zur Wissensbeschaffung sei legitim. Wissenschaft ist in ihrem Herzen anarchisch und nicht unterscheidbar von Pseudowissenschaft, Religion, Meditation, Kunst, Mythologie, Hexerei und allen anderen Unternehmungen, bei denen neues Wissen herauskommen könnte. Wenn es uns anders vorkommt, dann nur, weil wir Wissenschaft immer rückblickend beurteilen, also zu einem Zeitpunkt, wo schon klar ist, was funktioniert hat und was nicht. Kepler zum Beispiel war nicht nur einer der wichtigsten Astronomen überhaupt, sondern außerdem Astrologe. Newton brachte einen wesentlichen Teil seiner Zeit mit Alchemie zu. Daran sei nichts auszusetzen, so Feyerabend. Er will die Leute von der Tyrannei von Konzepten wie «Wahrheit», «Realität» und «Objektivität» befreien. Ein ehrgeiziges Unterfangen, das Feyerabend, vorsichtig ausgedrückt, nicht bei allen beliebt machte.
Es ist allerdings zweifelhaft, ob unserem alten Freund Pseudo die Feyerabend’sche Philosophie gefallen würde. Schließlich will er, dass sein Budenzauber als richtige, harte Wissenschaft anerkannt wird. Feyerabend sagt letztlich auch nur, dass niemand weiß, was Wissenschaft ist und wie sie funktioniert, eine Aussage, die viele Philosophen heute vermutlich unterschreiben würden. Vielleicht ist die Wissenschaftsphilosophie selbst eine Pseudowissenschaft, widerlegen kann sie das jedenfalls nicht.
Unabhängig von diesen ganzen Debatten haben sich die traditionell etablierten Wissenschaften pragmatische Mittel zugelegt, um die Qualität von Wissenschaft zu beurteilen. Es geht nicht anders, irgendwie muss man entscheiden, wem man die schönen Lehrstühle an den Universitäten gibt, und ein Verfahren nach dem Grundsatz «first come, first serve» würde den Geldgebern nicht gefallen. Der Schlüssel ist die Analyse wissenschaftlicher Publikationen, was seit etwa 50 Jahren wiederum eine eigene Wissenschaft ist, die Bibliometrie heißt.
Wissenschaftler schreiben ihre Ergebnisse auf und reichen diese «Paper» zur Veröffentlichung in Fachzeitschriften ein. Die Artikel werden allerdings nicht einfach so abgedruckt (beziehungsweise heute eher ins Internet gestellt), sondern vorher von anderen Experten auf dem jeweiligen Gebiet begutachtet – das «peer review»-Verfahren. Am Ende dieses Prozesses wird das Paper entweder abgelehnt oder akzeptiert. Wenn ein Paper den Peer Review überstanden
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