Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition)
hat, kann es natürlich immer noch totaler Unfug sein, zum Beispiel weil der Gutachter nicht gründlich war oder weil alle Beteiligten gerade Scheuklappen aufhaben und ein wesentliches Problem nicht erkennen. Peer Review ist keine Qualitätsgarantie, sondern eher die Art Eintrittskarte in eine Welt, in der das Paper von den Kollegen des Fachs ernst genommen und zitiert wird. (Ein Zitat ist in der Wissenschaft nicht unbedingt ein wörtlich zitierter Text, sondern einfach eine Quellenangabe.)
Das Zitat ist die wesentliche Einheit der Bibliometrie. Je mehr Zitate ein Paper erhält, desto stärker prägt es die Entwicklung eines Fachs und lenkt die Forschung in eine bestimmte Richtung. Die Idee liegt nahe, sich Zitate genauer anzusehen und mit ihrer Hilfe zu entscheiden, welche Wissenschaft etwas taugt und welche nicht. Man könnte z.B. einfach dem Bewerber den Professorenjob geben, der die meisten Zitate hat. Oder man macht es sich ein wenig komplizierter und berechnet den sogenannten h-Index, eine 2005 vom amerikanischen Physiker Jorge E. Hirsch vorgeschlagene Messzahl, die ebenfalls auf Zitaten beruht. Die Gesamtzahl der Zitate eines Wissenschaftlers könnte extrem hoch sein, weil er irgendwann einen Glückstreffer gelandet und ansonsten die Beine hochgelegt hat. Der h-Index trägt dem Rechnung; ein Wissenschaftler hat zum Beispiel den h-Index 10, wenn 10 seiner Paper mindestens 10 Zitate haben. So beurteilt man mehr das Gesamtwerk als einzelne Publikationen. Junge Genies kommen daher eher schlecht weg, weil sie noch nicht viel Zeit zum Veröffentlichen hatten. Wenn Einstein nach seinen ersten vier revolutionären Publikationen gestorben wäre – sein h-Index läge bei 5, was nach heutigem Maßstab ganz sicher nicht für eine Physik-Professur reichen würde.
Um solche Probleme zu vermeiden, wurde mittlerweile ein ganzer Zoo aus bibliometrischen Indizes erfunden, die alle behaupten, das Gleiche zu tun, nämlich einen objektiven Vergleich zwischen Wissenschaftlern zu ermöglichen. Neben dem h-Index gibt es den m-, j-, q- und g-Index, es ist also noch Platz für 21 andere. Alle diese Verfahren gehen insgeheim davon aus, dass Zitieren ein unbestechliches, sauberes Geschäft ist, was natürlich nicht stimmt. Forscher zitieren eine Veröffentlichung nicht unbedingt, weil sie sie für besser halten als alle Konkurrenzpaper. Die Bibliometrie kann zum Beispiel nicht unterscheiden zwischen dem Zitat «Paper X ist das Beste, das je zum Thema geschrieben worden ist» und dem gegensätzlichen Zitat «Paper X ist unsäglicher Blödsinn». Wie bei den meisten Tätigkeiten, bei denen Menschen im Spiel sind, ist die Motivationslage beim Zitieren vergleichbar mit einem unordentlichen Gestrüpp. Man zitiert, weil man den Autor persönlich kennt und ihn für vertrauenswürdig hält. Oder weil man sich zufällig an dieses eine Paper erinnert. Oder weil man gerade keine Zeit hat, die gesamte Literatur zu durchforsten nach einer besseren Quelle. Oder weil das Paper schon viele Zitate hat und man daher annimmt, es habe schon seine Richtigkeit.
Für solche Unzulänglichkeiten beim Zitieren gibt es auch schöne Belege. Mikhail Simkin und Vwani Roychowdhury von der University of California in Los Angeles analysierten im Jahr 2002 die Druckfehler in Zitaten und kamen zu dem Schluss, dass die meisten einfach ohne Überprüfung mitsamt den Fehlern aus anderen Literaturverzeichnissen kopiert werden, das heißt: «Nur ungefähr 20 Prozent der Zitierer lesen das Original.»
Aber es kommt noch besser. Fachzeitschriften arbeiten sehr langsam, und wenn ein Paper das Peer-Review-Verfahren durchlaufen hat, dauert es mitunter noch mehrere Monate, bis es tatsächlich veröffentlicht ist. In der Astronomie, der Physik und ein paar anderen Wissenschaften ist es daher seit den 1990er Jahren üblich, die Paper vorab frei für jeden sichtbar ins Internet zu stellen, bevor sie in der Fachzeitschrift offiziell erscheinen. Dafür gibt es eine Website namens arxiv.org, die jeden Tag für jeden Fachbereich eine neue Liste mit Vorabveröffentlichungen ausspuckt. Es hat sich herausgestellt, dass Paper, die bei arxiv.org auftauchen, deutlich häufiger zitiert werden als solche, die das nicht tun, weil sie schneller verfügbar sind. Weiterhin zeigen mehrere Studien, dass es für die Anzahl der Zitate eine Rolle spielt, zu welcher Uhrzeit man das Paper bei arxiv.org hochlädt. Diese Uhrzeit bestimmt, wo das Paper in der täglichen Liste der Neuerscheinungen
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