Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition)
Empfehlung, täglich mindestens 130 Gramm Kohlenhydrate zu verzehren, auf dem errechenbaren Energiebedarf des Gehirns und der Annahme, dass das Gehirn diesen Energiebedarf am liebsten aus Stärke oder Zucker deckt. Das Gehirn kommt aber auch ohne diese beiden gut zurecht. Unter anderem gehörte es in arktischen Gegenden lange Zeit zum guten Ton, sich ausschließlich von Fleisch und Fisch zu ernähren. Manche Bedürfnisse des Körpers lassen sich – je nachdem, was gerade zur Verfügung steht – wahlweise aus Kohlenhydraten, Fett oder Proteinen decken. Die täglich zu verzehrenden Mengen dieser Substanzen kann man daher auf viele verschiedene Arten errechnen und begründen; wechselnde Empfehlungsmoden sind die Folge.
Die aktuell verbreitete Empfehlung, täglich fünf Portionen Obst und Gemüse zu verzehren, geht auf verschiedene Überlegungen zurück. In den 1990er Jahren galt als gesichert, dass Obst- und Gemüseverzehr das Krebsrisiko senken, allerdings ist dieser Effekt neueren Studien zufolge bestenfalls winzig. Stattdessen beruft man sich jetzt auf die Ergebnisse epidemiologischer Studien (dazu später mehr), in denen ein höherer Obst- und Gemüseverzehr mit einem niedrigeren Risiko für einige chronische Erkrankungen einhergeht. Falls Obst und Gemüse tatsächlich die Ursache dieses Effekts sind und nicht nur aus anderen Gründen gleichzeitig mit ihm auftreten – beispielsweise, weil Obst- und Gemüseesser generell mehr auf ihre Gesundheit achten –, ist noch ungeklärt, wie der gesundheitliche Nutzen im Einzelnen zustande kommt. Deshalb lautet die Empfehlung auch nicht «500 Gramm Erbsen und eine Orange pro Tag», sondern ist sehr allgemein formuliert. Eine dritte Erwägung ist vermutlich die, dass in einen Magen, in dem fünf Portionen Obst und Gemüse verstaut sind, weniger Sahnetorte hineinpasst. Und im Unterschied zur Sahnetorte ist bei Obst und Gemüse halbwegs unumstritten, dass ihr Verzehr zumindest keinen Schaden anrichtet.
Bei Vitaminen und Spurenelementen fällt es Experten etwas leichter als bei den Großbausteinen der Ernährung, sich auf Unter- und Obergrenzen zu einigen. Für manche Substanzen ist die Lage relativ klar, weil ihr Fehlen nach einigen Monaten unübersehbare Mangelerscheinungen hervorruft, etwa Vitamin C, oder weil ihre Überdosierung zu Vergiftungserscheinungen führt wie beim Vitamin A. Allerdings ist auch dann meist nur das eine Ende der Empfehlungsskala einigermaßen gut bestimmbar; über einen sinnvollen Höchstwert bei der Vitamin-C-Zufuhr beispielsweise herrscht seit vielen Jahrzehnten Streit. Und die meisten Vitamine und Spurenelemente tun der Forschung nicht einmal diesen Gefallen. Für einen großen Teil der auf Lebensmittelpackungen erwähnten Substanzen ist keine klare Dosis-Wirkungs-Beziehung bekannt, bei Über- oder Unterdosierung treten keine eindeutigen Krankheitserscheinungen auf, und über altersspezifische oder individuelle Abweichungen in Bedarf, Konsum und Verwertung dieser Stoffe weiß man nicht viel.
Unterschiedliche Experten, die das gleiche Datenmaterial betrachten, gelangen auch zu recht unterschiedlichen Empfehlungen: Die Obergrenze für die Vitamin-B6-Aufnahme in den USA etwa beruht auf einer Studie an Menschen, bei der 200 Milligramm pro Tag keine schädliche Wirkung hatten. Geteilt durch einen Unsicherheitsfaktor von 2 kommt eine Obergrenze von 100 Milligramm pro Tag heraus. (Ein Unsicherheitsfaktor ist genau das, wonach es klingt. Er trägt der Tatsache Rechnung, dass man eben nicht alle Daten hat, die man bräuchte.) Die britische Empfehlung geht auf eine Studie an Hunden zurück, enthält einen Unsicherheitsfaktor von 300 und kommt am Ende auf 10 Milligramm pro Tag. Die EU-Empfehlung wiederum beruft sich auf eine Studie an Menschen, verwendet einen Unsicherheitsfaktor von 4 und empfiehlt den Verzehr von maximal 25 Milligramm pro Tag.
Irgendwelche Zahlen müssen die zuständigen Expertenkomitees aus dem Ärmel schütteln, denn es gibt so viele Stellen, die auf diese Angaben warten: Diäten wollen geplant werden, Lebensmittel angereichert, Packungen bedruckt und Schulklassen über Ernährung belehrt. Hinter den Kulissen drängeln und schubsen die Angehörigen verschiedener Lobbys. Wer seinen Lebensunterhalt in der Landwirtschaft oder Lebensmittelherstellung verdient, der sieht es nicht gern, wenn staatliche Stellen vom Verzehr ganzer Produktgruppen abraten. Vitaminpillen, Ernährungszusätze und Lebensmittel, die der Gesundheit guttun sollen,
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