Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition)
herauszufinden, was Forscher und Endkonsumenten am meisten interessiert, nämlich ob eine bestimmte Verhaltensweise, Ernährungsweise oder Therapie das Leben verkürzt oder verlängert, muss man streng genommen abwarten, bis entweder der Patient oder sehr viele andere Personen gestorben sind, die dem Patienten möglichst in jeder Hinsicht gleichen. Das ist unpraktisch, und deshalb messen Forscher anstelle von Gesundheit oder Langlebigkeit häufig sogenannte Biomarker. Ein Biomarker für die Existenz von Spechten ist die Existenz von →Löchern in Bäumen. Spechte sind schwer zu beobachten, Löcher in Bäumen dagegen relativ einfach. Aber Biomarker bringen gewisse Nachteile mit sich: Löcher in Bäumen können auch andere Ursachen haben, vielleicht ist der verursachende Specht bereits tot oder davongeflogen, und leicht verliert man über dieser ganzen Beschäftigung mit Löchern das Thema Spechte aus den Augen.
Das passiert auch in der Ernährungsforschung immer wieder. Seit den 1960er Jahren wird die Einnahme von Medikamenten, die den Cholesterinspiegel senken, zur Vorbeugung von Herzinfarkten empfohlen. Man kann den Cholesterinspiegel zuverlässig messen, und die Medikamente senken ihn nachweislich. Ob das aber tatsächlich zu einem längeren und gesünderen Leben führt, ist umstritten. Auch im Zusammenhang mit →Übergewicht ist noch nicht ausdiskutiert, ob das Körpergewicht überhaupt das ist, was man beobachten sollte (also der Specht), und nicht nur ein leicht messbares Symptom (das Loch im Baum).
In einer – außer unter Datenschutzgesichtspunkten – idealen Welt wüssten Ernährungsforscher von jedem einzelnen Menschen, was er wann und in welcher Menge isst und wie jedes Detail seiner Lebensumstände aussieht. Zwar sind mit etwas Mühe zukünftige Welten vorstellbar, in denen das technisch machbar und allgemein akzeptiert ist, aber gegenwärtig müssen Forscher sich damit begnügen, einen kleinen Teil des Verhaltens eines kleinen Teils der Bevölkerung zu untersuchen.
Dazu gibt es im Wesentlichen zwei Verfahren: epidemiologische Studien und randomisierte, kontrollierte Studien. Viele der Ernährungsratschläge, die täglich in der Presse auftauchen, gehen auf epidemiologische Studien zurück. Grob verkürzt ausgedrückt, sind das Studien, bei denen man eine möglichst große Anzahl von Menschen in ihren Lebens- und Ernährungsgewohnheiten beobachtet, ohne in ihr Verhalten einzugreifen. Man kann auf diese Art Dinge herausfinden wie (Achtung, frei erfundenes Beispiel): Menschen, die durchschnittlich zwölf Salatgurken pro Tag verzehren, leben etwas länger als Menschen, die nur drei Salatgurken essen. Der Nachteil daran: Obwohl es tags darauf in der Zeitung heißen wird «Salatgurken verlängern das Leben!», kann man diesen Kausalzusammenhang der Studie gar nicht entnehmen. Die Salatgurkenverzehrer könnten andere, unerkannte Gemeinsamkeiten haben, die für das längere Leben verantwortlich sind. Vielleicht gibt es Gene, die sowohl Gurkenbegeisterung als auch Lebensverlängerung hervorrufen. In diesem Fall würde es nichts nützen, der gesamten Bevölkerung zwölf Salatgurken pro Tag zu verordnen. Epidemiologische Studien produzieren nur Hypothesen. Wer eine so erzeugte Hypothese belegen will, braucht eine randomisierte, kontrollierte Studie, also ein Experiment, bei dem man eine möglichst große Anzahl von Versuchspersonen nach dem Zufallsprinzip in zwei Gruppen einteilt («randomisiert»), dann den Teilnehmern der einen Gruppe zwölf Salatgurken pro Tag verabreicht und der Kontrollgruppe keine einzige.
Im Idealfall wissen dabei weder die Versuchspersonen noch diejenigen, die den Versuch durchführen, und die Auswerter der Ergebnisse, wer zu welcher Gruppe gehört, es handelt sich dann um eine «dreifachblinde» Studie. Das macht ein ohnehin aufwendiges Verfahren noch etwas aufwendiger, aber es ist ein gut belegtes Phänomen, dass der Mensch, auch wenn er Wissenschaftler ist, starken Einflüssen des Wunschdenkens unterliegt und die Ergebnisse unverblindeter Studien teils bewusst, teils unbewusst so manipuliert, dass sie zu seinen Erwartungen passen.
Randomisierte, kontrollierte Blindstudien gelten als das beste Studiendesign zum Belegen von Kausalzusammenhängen, sind aber außerordentlich teuer und langwierig. Epidemiologische Studien hingegen hatten im Kontext der Ernährungswissenschaft in letzter Zeit eine eher schlechte Presse. In den wenigen Fällen, in denen ihre Aussagen in randomisierten
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