Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition)
großen, richtigen Beben. Solche Vorbeben treten zwar manchmal auf und sind nachträglich gut dokumentiert, aber leider gibt es sie nicht immer. Zudem lassen sich die schwachen Vorbeben nicht von irgendwelchen anderen kleinen Beben unterscheiden, wie sie in Erdbebenregionen häufig vorkommen. Man kann wohl kaum bei jedem kleinen Beben einen Alarm auslösen und die Leute aus ihren Häusern jagen.
Genaue Beobachtungen der Erde sind aber schon mal keine schlechte Idee. In Japan hat man in den letzten Jahren ein Netzwerk aus Antennen gebaut, die wie Straßenlaternen aussehen, aber anstelle einer Lampe ein GPS-Gerät enthalten. Mit Hilfe von GPS misst man die geographische Position der Antennen; man kann also feststellen, ob sie sich relativ zueinander bewegen. Von 2000 bis 2007 gab es über 100 Erdbeben der Stärke 6 oder mehr in Japan, und alle haben sich vorher über das GPS-Netzwerk bemerkbar gemacht. Das einzige Problem: Der Zeitabstand zwischen Warnung und Beben ist nicht immer der gleiche; manchmal schlägt das Beben sofort zu, manchmal dauert es ein paar Monate. Auch für das verheerende Beben im März 2011 hat das GPS-System die Position der Schocks vorhergesagt, nur eben den Zeitpunkt und die Stärke nicht.
Ein anderer möglicher Indikator für ein baldiges Erdbeben ist die Konzentration von bestimmten Substanzen im Grundwasser oder in der Luft. Die Theorie dazu besagt, dass ein beginnendes Erdbeben den Boden zusammenpresst und dabei irgendwas entweicht, wie beim Auswringen eines nassen Schwamms. Ein aussichtsreicher Kandidat für eine solche Substanz ist Radon. Nach einigen hoffnungsvollen Meldungen in den 1970ern versandete das Interesse an Radon allerdings in den folgenden Jahrzehnten, bis es im Jahr 2009 eine Wiederbelebung erfuhr, und zwar in Italien.
Der Labortechniker Giampaolo Giuliani arbeitete in seiner Freizeit mit selbstgebauten Instrumenten an Radonmessungen, weil man ihm die finanzielle Unterstützung verweigert hatte. Nachdem er einen Anstieg von Radon in der Luft festgestellt hatte, warnte er am 27. März 2009 den Bürgermeister von L’Aquila, der Hauptstadt der Provinz. Am nächsten Tag gab es tatsächlich ein Erdbeben in L’Aquila, aber es war klein und harmlos. Als Nächstes alarmierte Giuliani die Stadt Sulmona, 50 Kilometer westlich von L’Aquila. Die Bevölkerung geriet in Panik, und Giuliani wurden weitere öffentliche Statements verboten. Nennenswerte Erdbeben gab es in Sulmona keine. Am 5. April war Giuliani offenbar wiederum davon überzeugt, dass ein starkes Beben in L’Aquila bevorstand, aber er durfte nichts sagen. Tatsächlich gab es am 6. April ein Beben der Stärke 6,3 in L’Aquila, das die Stadt in einen Trümmerhaufen verwandelte. Etwa 300 Menschen starben, 80 000 verloren ihre Wohnung.
Der Vorgang ist misslich, aber lehrreich. Wäre man Giulianis Warnung gefolgt, dann hätte man Sulmona evakuieren müssen. Die meisten Bewohner wären vermutlich in die größte Stadt der Gegend gebracht worden, nach L’Aquila, wo ein paar Tage später das richtige Beben zuschlug; auch kein optimales Szenario. Die Vorhersage war zu unbestimmt, um hilfreich zu sein.
Einfach nur ein Erdbeben vorherzusagen, reicht eben nicht aus. Eine ordentliche Vorhersage sollte Zeit, Ort und Stärke liefern und außerdem Informationen darüber, wie groß die Unsicherheit in diesen Angaben ist. Zudem muss man ausschließen, dass es sich um einen Glückstreffer handelt. In der Sprache der Statistik heißt das, man muss die «Nullhypothese» festlegen, die Wahrscheinlichkeit für das zufällige Auftreten eines Erdbebens. Diese Nullhypothese sollte berücksichtigen, was man alles schon über Erdbeben in der fraglichen Gegend weiß, wie oft sie auftreten, an welchen Stellen und so weiter. In einer Region, wo es sowieso alle drei Tage bebt, kann man leicht irgendwas behaupten. Eine gute Vorhersagemethode sollte Ergebnisse liefern, die besser sind als die Nullhypothese, am besten nicht nur einmal. Solche Methoden lassen sich nicht einfach so übers Wochenende erfinden, schon weil sich die großen Erdbeben, für die eine Vorhersage wünschenswert wäre, nicht so oft ereignen. Erdbebenvorhersage ist eine mühselige, langwierige Angelegenheit.
Das L’Aquila-Beben wurde übrigens noch von anderen Experten vorhergesehen – von italienischen Kröten. Drei Tage vor dem Beben verließ eine Krötenkolonie ihren angestammten Wohnort 74 Kilometer entfernt vom Epizentrum und kehrte erst zurück, als alles vorbei war.
Weitere Kostenlose Bücher