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Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition)

Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition)

Titel: Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Passig , Aleks Scholz , Kai Schreiber
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Blutvolumen und von der Fließgeschwindigkeit. Und unversehens wird aus der schönen, gradlinigen Story eine Schlangenlinie. Denn wie die Regelung der Blutzirkulation im Gehirn funktioniert, ist weitgehend unverstanden. Bekannt ist, dass die Aktivität von Neuronen sich auf die Blutversorgung auswirkt, zum Beispiel durch das Aussenden von Botenstoffen, die die Blutgefäße weiten oder verengen. Man weiß nicht viel über diese Mechanismen, aber 2006 erschien eine Studie, der zufolge diese Botenstoffe nicht von Neuronen ausgesandt werden, sondern von den Astrozyten, die oft analog zur weißen und grauen Substanz die «dunkle Substanz» des Gehirns genannt werden – und das mit gutem Grund.
    Normalerweise stellt man sich das Gehirn ja als Denkmaschine vor, vollgepackt mit Neuronen und ihren Verbindungskabeln, den Axonen, und überall brummt und summt es von all den hin und her schwirrenden Signalen. Was man sich normalerweise nicht vorstellt, ist, dass das menschliche Gehirn nur zu 10 Prozent aus Neuronen besteht. Die restlichen 90 Prozent bilden die sogenannten Gliazellen, benannt nach dem griechischen Wort für Klebstoff. (Das hat übrigens nichts mit dem alten Blödsinn zu tun, wonach wir nur 10 Prozent unseres Gehirns nutzen, das ist und bleibt Quatsch.)
    Die Hirnkleberzellen galten lange Zeit nur als das Gerüst, an dem die Neuronen aufgehängt sind, und als Putztruppe, die die Chemikalien, mit denen die Neuronen rumspritzen, wieder aufwischen muss. Die Mitglieder dieser Putztruppe sind die Astrozyten, und nach neuesten Erkenntnissen tun sie weitaus mehr, als nur das Kopfinnere sauber zu halten. Astrozyten regeln die Durchblutung, und weil sie offenbar mit Neuronen kommunizieren, wird jetzt sogar erwogen, dass die Putztruppe gewissermaßen mitdenkt. Das Gehirn muss sich seinen Ruf als kompliziertestes Ding des Universums ja schließlich auch irgendwie verdienen.
    Aber die Einzelheiten über die Zellen und ihre Kommunikationssignale brauchen uns im Moment gar nicht zu interessieren, beziehungsweise nur, insofern sie Rückschlüsse auf das BOLD-Signal zulassen. Und hier wird es haarig. Während die Kopplung des Blutsauerstoffverbrauchs an die lokale Aktivität von Neuronen mittlerweile recht gut belegt ist, weiß man nicht, welcher Aspekt dieser Aktivität eigentlich relevant ist. Sind die in einer Region ankommenden oder die von dieser Region ausgesandten Signale wichtiger? Ist die Steuerung lokal, wird also die Durchblutung genau da gefördert, wo Energie gebraucht wird, oder eher global, sodass vielleicht ganze Hirnlappen mehr Blut bekommen, wenn eine Region in ihnen aktiv wird? Wenn eine Region aktiv wird und die Durchblutung steigt, bedeutet das dann, dass in Nachbarregionen Blut fehlt und dort ein negatives BOLD-Signal auftritt, aufgrund eines Mechanismus, der in der Forschungsliteratur sehr hübsch Blutraub (englisch «blood stealing») genannt wird? Verhalten sich Kapillargefäße anders als größere Adern? Auf all diese Fragen gibt es durchaus ein paar Antwortansätze, aber von einem Verständnis dessen, was da vorgeht, sind wir weit entfernt.
    Eine der Fragen immerhin ist einigermaßen geklärt. In einem heroisch schwierigen Experiment, bei dem gleichzeitig die elektrische Aktivität des Gehirns und das BOLD-Signal gemessen wurden, fand die Arbeitsgruppe von Nikos Logothetis in Tübingen heraus, dass das BOLD-Signal hauptsächlich mit den sogenannten lokalen Feldpotenzialen korreliert. Diese in Neurokreisen zärtlich als LFP bezeichneten Potenziale sind lokale Schwankungen des elektrischen Feldes, die man zwar auch noch nicht vollständig versteht, die aber vermutlich die in einer Gehirnregion einlaufenden Signale repräsentieren. Weniger korreliert das BOLD-Signal mit den Aktionspotenzialen, die über die Nervenbahnen aktiv ausgesandt werden und die eher wie ein neuronaler Morsecode funktionieren, der die Ergebnisse der Informationsverarbeitung an andere Neuronen weiterfunkt.
    Aus diesem Wirrwarr an Mechanismen und Vermutungen kann man trotzdem schöne Bilder herstellen, und zwar mit Hilfe komplizierter statistischer Analysen, deren Ergebnisse – und nicht das BOLD-Signal selbst – es in der Regel sind, die als farbige Kleckse auf Abbildungen von Gehirnen landen. Diese statistischen Methoden selbst können dabei auch noch zur Verwirrung beitragen, die gewählten Grenzen zum Beispiel zwischen «aktivierten» und «nicht aktivierten» Arealen werden in der Regel willkürlich gezogen. Dass das

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