Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition)
die Voraussetzungen des besonders langen Lebens nicht», schreiben die Altersforscher James W. Vaupel und Kristin G. von Kistowski. «Die Wissenschaft hat wenig mehr zu bieten, als in jenen Ratschlägen steckt, die Mütter gern erteilen: viel Gemüse essen, überhaupt maßvoll und regelmäßig essen, sich viel, aber nicht zu viel bewegen, nicht rauchen und nicht betrunken Auto fahren, lesen und sich bilden, sich bei Kälte eine Mütze aufsetzen – und das Leben genießen.»
Fest steht, dass es hilfreich ist, eine Frau zu sein – westdeutsche Frauen lebten 1950 knapp vier Jahre länger als Männer, heute ist der Abstand auf über sechs Jahre gewachsen. Mit den Spekulationen, wie es dazu kommt, ließe sich ein weiterer Lexikonbeitrag füllen. Studien in Klöstern, wo der Lebenserwartungsabstand zwischen Mönchen und Nonnen nur etwa ein Jahr beträgt, deuten jedenfalls darauf hin, dass die Lebensweise eine größere Rolle spielt als die biologische Veranlagung. Auch in Zwillingsstudien sieht es so aus, als gehe nur etwa ein Viertel der Variation in der Langlebigkeit auf genetische Unterschiede zurück.
Der Anstieg der Lebenserwartung ist bisher nicht zum Stillstand gekommen, und er wird es voraussichtlich auch nicht in naher Zukunft tun. Wenn ein Ende der Entwicklung in Sicht wäre, müsste die Lebenserwartung in den Erstweltländern langsamer steigen als in den weiter zurückliegenden Ländern; die Kurve würde abflachen. Eine solche Abflachung ist aber nirgends in Sicht – im Gegenteil, gerade in den führenden Ländern und bei den ohnehin schon langlebigeren Frauen steigt die Lebenserwartung besonders schnell.
Das hat Forscher nicht davon abgehalten, ein solches Ende immer wieder anzukündigen. Die Altersforscher Stuart Jay Olshansky und Kollegen etwa kündigten 2005 an, die Lebenserwartung der Amerikaner werde künftig nicht nur nicht weiterwachsen, sondern sogar zurückgehen, und zwar wegen des →Übergewichts weiter Bevölkerungsteile. Die knapp hundertjährige Geschichte solcher Vorhersagen ist allerdings bisher nicht sehr erfolgreich verlaufen. Der Versicherungsstatistiker Louis Dublin errechnete 1928, dass der Anstieg der Lebenserwartung bei 64,75 Jahren zum Stillstand kommen werde – sie lag damals in den USA bei 57 Jahren. Die Frauen Neuseelands hatten Dublins Vorhersage allerdings schon zum Zeitpunkt der Veröffentlichung überholt. Er korrigierte seine Aussage, isländische Frauen bewiesen, dass auch der neue Wert von 69,93 Jahren zu niedrig lag, Dublin erhöhte auf 70,8 Jahre, die Frauen Norwegens wurden umgehend noch älter. Anderen Forschern erging es nicht besser. Bisher dauerte es im Schnitt fünf Jahre, bis Vorhersagen einer konkreten Obergrenze von den Tatsachen überholt wurden. Die Vereinten Nationen haben in ihren regelmäßig überarbeiteten «World Population Prospects» die geschätzte Obergrenze der durchschnittlichen Lebensdauer bei Frauen seit 1973 um fünfzehn Jahre verschoben. Wenn die bisherige Entwicklung anhält, steht Frauen in einigen Ländern in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts ein hundertjähriges Leben bevor.
Ob es dazu tatsächlich kommt, ist eine Frage, für deren Antwort sich neben den beteiligten Forschern auch Versicherungen und Politiker interessieren. Versicherungen würden gern ihre Beiträge entsprechend gestalten, Politiker möchten bei ihrer Planung von Altersvorsorge und Rentenalter wenigstens nur so weit wie üblich danebenliegen und nicht noch weiter. Unter den Forschern wiederum gibt es zwei Lager: Auf der einen Seite stehen diejenigen, die an eine charakteristische, festgelegte Lebenserwartung des Menschen glauben und davon ausgehen, dass wir diesen Maximalwert in naher Zukunft erreichen. Die Gegner dieser These verweisen auf die geringe Haltbarkeit aller bisherigen Vorhersagen. Einerseits scheinen die Anhänger der «Das geht nicht mehr lange so weiter»-Theorie den gesunden Menschenverstand auf ihrer Seite zu haben; schließlich behauptet kaum jemand ernsthaft, der Mensch sei eventuell unsterblich. Andererseits ist genau der Umstand, dass sich diese Hypothese so richtig anfühlt , ein Teil des Problems. Menschen neigen auf den verschiedensten Gebieten zu der nicht immer gut fundierten Annahme, erstens werde sich in Zukunft alles genauso weiterentwickeln wie bisher, zweitens aber nur noch für kurze Zeit, und dann sei drittens der Ofen aus. Tatsächlich befinden wir uns aber nicht kurz vor dem Ende aller denkbaren Entwicklungen, sondern mittendrin.
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