Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition)
Daher ist nicht nur umstritten, an welchem Punkt die menschliche Lebenserwartung zum Stillstand kommen wird, sondern auch, ob damit überhaupt zu rechnen ist.
Betrachten wir zum Vergleich die Frage, ob es eine Bestzeit im Hundertmeterlauf gibt, die niemand mehr unterbieten kann. Hier ist klar, dass der Rekord nicht eines Tages bei null Sekunden liegen wird. Die Verbesserungsmöglichkeiten gelten schon seit einiger Zeit als weitgehend ausgereizt. Trotzdem gelang es Usain Bolt 2008, nicht nur den Rekord zu brechen, sondern dabei auch die Vorhersagen über den Haufen zu werfen: Seine Zeit von 9,69 Sekunden tauchte im gängigen Modell erst im Jahr 2030 auf, und die vorausgesagte «endgültige Rekordzeit» (um die 9,45 Sekunden) musste weiter nach unten korrigiert werden. Das Blog Wired Science zitierte in diesem Zusammenhang den Physiologen und Biomechaniker Peter Weyand mit der Aussage, mathematische Modelle könnten nie vorhersagen, wie schnell Menschen eines Tages laufen werden. «Vorhersagen sind eine schöne Sache», so Weyand, «aber mit Wissenschaft hat das wenig zu tun. Man setzt dabei voraus, dass alles, was in der Vergangenheit passiert ist, in Zukunft genauso weitergehen wird.»
Diesen Gefallen aber tut die Zukunft dem Menschen nur selten. Und nicht nur die Techniken und Praktiken, die zu den jeweiligen Rekorden führen, verändern sich, auch auf die Rahmenbedingungen ist kein Verlass. Im 19. Jahrhundert wurde das jeweils schnellste Passagierschiff auf der Transatlantik-Route von Europa nach New York mit dem «Blauen Band» ausgezeichnet. Die Reisezeit verkürzte sich von über zwei Wochen im Jahr 1838 auf knapp vier Tage im Jahr 1952. Danach wurde das «Blaue Band» nicht mehr verliehen. Die großen Auswanderungswellen waren vorbei, Passagierflüge in die USA waren erschwinglich geworden, und es interessierte einfach niemanden mehr, wie viele Tage die Schiffsreise dauerte.
Mit zunehmendem technischen Fortschritt auf einem bestimmten Gebiet müssen ursprünglich simple Fragen immer stärker durch Definitionen und Regelwerke eingegrenzt werden. Diesen Prozess kann man bei vielen olympischen Disziplinen beobachten, und auch in der Zukunft des 100-Meter-Rekords wird es in erster Linie das Internationale Olympische Komitee sein, das die Grenzen vorgibt. Heute bestimmt das Dopingverbot die erreichbare Bestzeit wesentlich mit, in Zukunft werden Beschränkungen für den Einsatz neuer Biotechnologien durch Sprinter hinzukommen.
Womöglich entscheidet sich auch die Frage nach der Lebenserwartung eines Tages auf diese etwas unbefriedigende Art. Jeder Mensch kann sich nach dem dritten Bier problemlos Zukunftsszenarien ausmalen, die Forscher zur Einführung neuer Fußnoten an ihrer Lebenserwartungsdefinition nötigen. Wenn sich jedes Organ im Labor erzeugen oder zum Nachwachsen bewegen ließe wie die Zähne eines Hais, wäre das Alter zumindest reicher Menschen bald so schwer zu benennen wie das eines historischen Schiffs, bei dem jedes Stück Holz mehrmals ausgetauscht wurde. Und falls sich eines Tages doch noch herausstellen sollte, dass man das menschliche Denkvermögen aus dem Gehirn heraus- und in ein Gerät hineinlocken kann, werden ebenfalls neue Definitionen fällig.
Übrigens ist auch die Lebenserwartung von Hauskatzen in den letzten 40 Jahren um etwa zehn Jahre angestiegen. Aus den zwei Datenpunkten Mensch und Katze darf man allerdings nicht gleich ableiten, dass einfach alles immer älter wird und die Eintagsfliege demnächst in Dreiwochenfliege umbenannt werden muss. Die Frage nach der maximal erreichbaren Lebensdauer hat jedenfalls im Vergleich zu vielen anderen offenen Forschungsfragen einen wesentlichen Vorzug: Sie lässt sich wahrscheinlich durch Abwarten beantworten. Im besten Fall wird uns das Ergebnis – wie beim «Blauen Band» – eines Tages einfach nicht mehr so interessieren.
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Links und rechts
Er wusste, dass eine von beiden Pfoten die rechte war, und er wusste auch, dass, sobald man festgestellt hat, welche die rechte war, die andere die linke sein musste, nur konnte er sich nie entsinnen, auf welcher Seite man anfangen musste.
A. A. Milne, «Pu, der Bär»
Zu den großen Fragen der Menschheit gehört – neben «Woher kommen wir?», «Wohin gehen wir?» und «Nehmen wir das Auto, oder wollen wir unterwegs was trinken?» – auch die Spiegelfrage: «Warum vertauscht ein Spiegel links und rechts, nicht aber oben und unten?» Jeder Mensch, der diese Frage für sich
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