Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition)
größere Gruppe hat also wahrscheinlich in einigen Punkten auf dieselbe Art unrecht wie ein einzelner Mensch.
Ein Staat, der einem anderen den Krieg erklärte, hatte bis zum Jahr 1900 eine Chance von über 70 Prozent, als Sieger aus diesem Krieg hervorzugehen. Seit 1945 liegt diese Chance nur noch bei einem Drittel, und selbst bei militärischer Überlegenheit des Angreiferstaates kommt sie kaum über 40 Prozent hinaus. Der Nutzen des Krieges hat also stark nachgelassen. Nicht aber seine Beliebtheit: Seit 1920 kommt es im Schnitt alle zwei Jahre zu einem größeren Krieg zwischen Staaten. In einer rationalen Welt müsste das Kriegführen unbeliebter werden, sobald es sich weniger lohnt. Dass das nicht der Fall ist, spricht eher dafür, dass Krieg durch Fehleinschätzungen zustande kommt oder zwar durch rationale Überlegungen, die aber nichts mit einem zu erwartenden Sieg zu tun haben.
Möglicherweise sind Konflikte ja gar nicht die Ursache des Krieges, sondern werden absichtlich herbeigeführt oder als Vorwand benutzt, um einen Krieg zu beginnen, den zumindest manche Beteiligte einfach wollen. Zum Beispiel, um das Volk von Problemen im Landesinnern abzulenken oder weil man in den letzten Jahrzehnten sehr viel Geld für Rüstung ausgegeben hat und diese Ausgaben nicht umsonst gewesen sein dürfen. Vielleicht streiten sich Staaten mit einem starken Militär einfach öfter, so wie Menschen mit Rechtsschutzversicherungen bei Konflikten etwas für ihre jahrelang gezahlten Beiträge geboten bekommen wollen. Und schließlich möchten auch die Angehörigen der Streitkräfte mit den ganzen aufregenden Geräten wahrscheinlich nicht immer nur Manöver durchführen und Platzpatronen verschießen. Es kommt der Tag, da will die Säge sägen.
Unter bestimmten Bedingungen macht Krieg offenbar vielen Menschen Spaß, dafür sprechen zumindest einige Regalkilometer Kriegsliteratur und die allgemeine Begeisterung für Kriegsspiele. Zu diesen Bedingungen gehört es, dass man auf der Gewinnerseite kämpft und nach überschaubarer Zeit lebendig und im Besitz aller Körperteile wieder nach Hause kommt, wo man einen höheren Status genießt als zuvor. Es genügt, wenn der einzelne Kriegsteilnehmer die Chance auf einen so vorteilhaften Ausgang für größer hält als die mit dem Einsatz verbundenen Risiken oder seine Chancen, sich anderweitig Ansehen zu verschaffen. Und auch abgesehen von Fun und Status können diverse Interessengruppen vom Krieg oder dessen Verlängerung profitieren – zum Beispiel die Rüstungsindustrie und private Söldner, aber auch die Mitarbeiter von Hilfsorganisationen.
Wer daran glaubt, dass Krieg zumindest heimlich von einigen Beteiligten gar nicht so ungern gesehen wird, müsste sich also strategisch für mehr Transparenz, Rüstungskontrolle, niedrige Militärausgaben und besonders uncoole Uniformen einsetzen. Hilfreich wäre vermutlich auch mehr Forschung zur Frage, ob realistische Kriegsspiele der ohnehin vorhandenen Kriegslust ein gesundes Ventil bieten (das ist die auch im Zusammenhang mit Pornographie umkämpfte «Katharsistheorie») oder ob sie den Glauben an Gewalt als Mittel zur Konfliktlösung erst so richtig befördern.
1972 erweiterte der französische Soziologe Gaston Bouthoul die Diskussion um eine These, die heute unter dem Namen Youth bulge bekannt ist. Sie wurde in den 80er und 90er Jahren seitens der CIA weiter ausgebaut und ist in Deutschland vor allem durch das 2003 erschienene Buch «Söhne und Weltmacht» des Soziologen und Wirtschaftswissenschaftlers Gunnar Heinsohn bekannt. Krieg wird dieser Theorie zufolge durch einen Überschuss junger Männer ausgelöst, denen sich zu wenig Beschäftigungs- und Aufstiegsmöglichkeiten bieten. Bouthoul sah das Problem im «Anteil junger Männer zwischen 18 und 35 Jahren, der von wesentlichen Wirtschaftsfunktionen freigestellt ist». Heute setzt man die verdächtige Altersgruppe weiter unten an und vermutet Kriegsgefahr dort, wo die Altersgruppe der 15- bis 24-Jährigen einen Anteil von 20 Prozent an der Gesamtbevölkerung übersteigt.
Zu so einem relativen Jugendüberhang kommt es kurzfristig, wenn in einem Land mit hoher Geburtenrate die Kindersterblichkeit sinkt. Ein länger anhaltender Jugendüberhang entsteht, wenn die Sterblichkeit unter Erwachsenen hoch ist. Das ist in einigen Staaten Afrikas aufgrund von Aids der Fall. Anhänger der Youth-Bulge-Theorie führen unter anderem die Französische Revolution und die Napoleonischen Kriege auf die
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