Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition)
schwarz und weiß. Man kann zeigen, dass Leute, die bisher nur die Vase im Bild erkannt haben, sich hinterher auch nur an die Vase erinnern und nicht nachträglich die Gesichter daraus konstruieren können. Weiße Vasen sind ja auch wichtiger als schwarzer Hintergrund. Der Rand gehört offenbar nur entweder zur Vase oder zu den Gesichtern, je nachdem, was man gerade sieht, aber nie zum Hintergrund oder zu Objekt und Hintergrund.
Das ergibt auch Sinn: In einer Welt voller Objekte, die sich gegenseitig im Weg stehen, ist ein Rand in den meisten Fällen ein Zeichen dafür, dass ein Ding vor irgendeinem Hintergrund steht. Nur selten passen diese Dinge so zusammen wie Puzzleteile, wo ein Rand eines Teils gleichzeitig der Rand eines anderen Teils ist. Es erscheint angemessen, den Rand – und mit ihm die Information über Position, Form und Größe – dem Ding zu geben und nicht den leeren Räumen zwischen den Dingen. Wir haben nicht einmal Worte für diese Leere; wir kennen zwar Töpfe, aber wie heißt der Raum zwischen den Töpfen?
Diese Fokussierung auf Objekte ist übrigens nicht selbstverständlich, man kann das auch anders sehen. So erklärt Lao-Tse, der leere Raum zwischen den Töpfen sei in Wahrheit die Essenz der Töpfe. Diese Zwischenräume beziehungsweise unsere Wahrnehmung derselben heißen im Japanischen «Ma», ein Wort, für das es im Deutschen keine Entsprechung gibt, weil wir die Zwischenräume ignorieren. Wenn eine Katze auf dem Fußboden sitzt, wollen wir dingbesessenen Nichtjapaner die Katze streicheln, nicht das Ma ringsherum. Die Kontur der Katze wird darum als Katze interpretiert und nicht als katzenförmiges Loch im Teppich.
Leider funktioniert das alles nicht mehr, wenn man wirklich ein Loch im Teppich hat. Das nämlich können wir genauso gut «sehen» wie Objekte. Experimente mit in Karton gestanzten Löchern zeigen, dass sich die Testpersonen an die Form von Löchern ebenso gut erinnern können wie an die Form von Objekten. Es gibt eine Reihe weiterer Ähnlichkeiten in der Loch- und Objektwahrnehmung, zum Beispiel können wir die Ähnlichkeit von zwei Konturen für Löcher und Objekte gleich gut beurteilen. Diese Parallelen führen zu einem Paradoxon, das im Jahr 1999 dem amerikanischen Psychologen Stephen E. Palmer auffiel: Wenn der Rand zum umgebenden Objekt gehört und nicht zum Loch und der Rand außerdem die Information über die Form enthält, wie sehen wir dann das Loch? Oder anders gefragt: Gehört der Rand vielleicht doch zum Loch?
Eine Frage, der Marco Bertamini, ein Psychologe an der University of Liverpool, seit einigen Jahren nachgeht. Er hat sich Experimente ausgedacht, die klar zeigen, dass sich Löcher eben doch anders verhalten als Objekte, auch wenn diese Unterschiede schwieriger zu finden sind als die Gemeinsamkeiten. Bertamini und seine Kollegen verwenden zur Demonstration dieser Unterschiede Löcher und Objekte in zwei verschiedenen Formen: «Fass» und «Sanduhr». Die Fässer sind konvex, also nach außen gewölbt – in der Mitte breiter als oben und unten. Die Sanduhren dagegen haben eine konkave Stelle, sie sind in der Mitte auf beiden Seiten nach innen gewölbt und schmaler als oben und unten, wie eine Sanduhr eben. Noch eine Besonderheit: Die Wölbung, ob konkav oder konvex, sitzt auf beiden Seiten des Fasses beziehungsweise der Sanduhr nicht genau auf der gleichen Höhe. Wie genau die Wölbungen aussehen, ist bei jedem Objekt oder Loch ein wenig anders.
Bertamini zeigt seinen Testpersonen, bei denen es sich wie immer in psychologischen Experimenten um Studenten handelt, viele solcher Fässer und Sanduhren, entweder als Objekt oder als Loch. Anschließend will er von den Probanden wissen, ob die Wölbung von Fass oder Sanduhr auf der linken Seite höher oder niedriger sitzt als auf der rechten, und er misst, wie lange sie für die Beantwortung dieser Frage brauchen. Die Theorie wäre, dass diese Zeitspanne einem etwas darüber mitteilt, wie gut man Details über die Form von Löchern oder Objekten wahrnimmt.
Dabei kommt etwas Interessantes heraus: Die englischen Studenten können offenbar die Form der konvexen Fässer leichter erkennen, wenn es sich um Objekte handelt. Andererseits können sie konkave Sanduhrformen besser erkennen, wenn sie als Loch auftreten. Die Unterschiede zwischen Loch und Objekt sind nicht groß, weniger als eine Zehntelsekunde, aber deutlich mehr als die Messungenauigkeit. Daraus lernt man zunächst, dass wir überhaupt Löcher von
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