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Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition)

Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition)

Titel: Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Passig , Aleks Scholz , Kai Schreiber
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nasenfernen Netzhäute die Seite wechseln, was auch nicht mehr oder weniger Arbeit wäre.
    Eine der schlüssigeren Theorien für diese Dekussation, das Vertauschen von Körper- und Hirnhälfte: In grauer Vorzeit lebte einmal ein flunderartiges Tier, das seines Flunderdaseins überdrüssig wurde. Wenn aufrecht schwimmende Fische sich flach legen, wandert das Auge, das dann eigentlich unten läge, an die Oberseite, und weil manche Flundern sich linksrum und andere sich rechtsrum legten, gibt es heutzutage Linksaugenflundern und Rechtsaugenflundern. Im Einklang mit der Verwirrung in der Vogelklassifikation, wo Amseln Drosseln sind, nennt man die Linksaugenflundern übrigens Butte. Taxonomen wollen offenbar auch ihren Spaß haben.
    Die vorgeschichtliche Flunderartige nun könnte beim evolutionären Abheben vom Meeresboden einen dummen Fehler gemacht haben und, statt sich wieder so aufzurichten, wie sie sich hingelegt hatte, andersrum schwimmen gegangen sein, was insgesamt dann zu einer Vertauschung der Körperseiten geführt hätte. Dass diese Theorie eine der plausibleren zur Erklärung der Dekussation ist, sagt allerhand über die nahezu komplette Ratlosigkeit, die die Wissenschaft angesichts der Dekussation beschleicht.
    Eine naheliegende Frage angesichts all der Links-rechts-Verwirrungen im menschlichen Kopf wäre die nach der Bedeutung von links und rechts in der Welt außerhalb dieses verwirrten Menschenkopfes, in der Physik zum Beispiel oder in der Milch. Darum geht es im Spiegelbild dieses Artikels, unter →Rechts und links.
    Dieser Eintrag hier endet dagegen mit der versprochenen Erklärung der großen Spiegelfrage. Die Antwort darauf, warum Spiegel links und rechts, nicht aber oben und unten vertauschen, ist, wie so oft bei kniffligen Fragen: Sie war falsch gestellt. Spiegel vertauschen nämlich weder das eine noch das andere, sondern vorne und hinten. Dass es uns so scheint, als vertauschte der Spiegel links und rechts, liegt daran, dass Menschen ungefähr symmetrisch sind (außer sie sind verheiratet oder arbeiten im Sägewerk) und man sich den von vorne auf hinten gestülpten Menschen im Spiegel deshalb wie jemanden vorstellen kann, der sich einfach umgedreht hat. Aber hätte sich der Mensch vor dem Spiegel tatsächlich umgedreht, wäre der Ehering oder der fehlende Finger an der anderen Hand, und es würde so aussehen, als hätte der Spiegel rechts und links vertauscht. Hat er aber gar nicht. Sondern nur demonstriert, dass, wenn ein rechts-links-verwirrter Affe in einen Spiegel schaut, kein Durchblick rauskommen kann.

[zur Inhaltsübersicht]
    Loch
    Denn unsre Sprache ist von den Etwas-Leuten gemacht; die Loch-Leute sprechen ihre eigne.
    Kurt Tucholsky, «Zur soziologischen Psychologie der Löcher», 1931
    Löcher sind rätselhafte Dinge. Man kann nicht einmal diesen einfachen Satz sagen, ohne ein Paradoxon zu erzeugen, denn wie kann etwas, das nichts ist, ein Ding sein? Solange man nicht weiter darüber nachdenkt, ist alles in Ordnung. Die Welt ist offenbar voll von Löchern, vor allem wenn man die ganze Lochverwandtschaft (Höhlen, Tunnel, Gruben, Ritzen usw.) dazuzählt. Löcher scheinen eine Form zu haben, eine Größe, einen Aufenthaltsort – und sie haben eine Geschichte: Löcher können entstehen, indem man ein Stück Holz mit einer Bohrmaschine traktiert, sie können sich verändern, und sie können verschwinden, zum Beispiel wenn man sie zustopft. Alles Eigenschaften, die man von normalen Dingen kennt. Daher kommt es einem intuitiv nicht so falsch vor, ein Loch genauso zu behandeln wie, sagen wir, einen Schrank oder irgendein anderes Objekt. Aber ein Loch ist kein Objekt, oder wenn es eines ist, dann besteht es aus nichts – und damit gehen die Schwierigkeiten los.
    Für die Philosophen gehört das Problem zum Teilgebiet der Ontologie, die Wissenschaft, die untersucht, welche Sachen es gibt und welche nicht. Vereinfacht gesagt werden zwei Positionen über Löcher vertreten: Es gibt sie, oder es gibt sie nicht. Kann man Löcher vollkommen ausmerzen beziehungsweise auf die Eigenschaften materieller Objekte reduzieren, oder muss man ihnen einen Sonderstatus einräumen? Diese Frage ist keinesfalls neu, sondern wird seit ein paar tausend Jahren diskutiert. In der mittelalterlichen Scholastik gehörten Löcher zu den «Privationen» (lateinisch für «Beraubung») – wir sprechen von Privationen, als seien sie etwas, aber eigentlich handelt es sich um das Fehlen von etwas. Davon gibt es noch mehr,

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