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Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition)

Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition)

Titel: Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Passig , Aleks Scholz , Kai Schreiber
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Blindheit zum Beispiel oder der Name einer Person, den man eigentlich kennen sollte, aber wieder vergessen hat. Nach Thomas von Aquin gibt es diese Privationen, aber nicht in dem Sinne, wie es Tintenfische oder Vorschlaghämmer gibt. Löcher haben einen Sonderstatus; es gibt sie nur in einem eingeschränkten Sinne: weil es möglich ist, über sie Aussagen zu treffen wie «ein Loch ist im Käse».
    So ähnlich klingt auch die Theorie der italienischen Philosophen Roberto Casati und Achille C. Varzi, der eine in Paris, der andere in New York tätig. Zusammen haben sie 1994 ein ganzes Buch über Löcher geschrieben. Auch Casati und Varzi räumen Löchern einen Sonderstatus in der Welt ein: Es gibt Löcher, sie sind keine materiellen Objekte, benehmen sich aber in vieler Hinsicht so.
    Die amerikanischen Philosophen David und Stephanie Lewis vertreten die Gegenseite; sie erklären das Loch allein über die Materie, die das Loch umgibt. In einem im Jahr 1970 erschienenen Essay diskutieren die fiktiven Charaktere Argle und Bargle über Löcher. Argle streitet die Existenz von Löchern zunächst ab, weil er nur an die Existenz von materiellen Dingen glaubt, sieht aber bald ein, dass er sich in Widersprüche verwickelt, die sich nicht so einfach beseitigen lassen. Zum Beispiel kann man Löcher offenbar zählen, genau wie materielle Objekte, irgendwas muss da also sein, um sich zählen zu lassen. Im Folgenden behauptet Argle, dass Löcher in der Tat materielle Objekte sind. Die Materie sei aber nicht im Loch, sondern um das Loch herum. Das Loch, meint er, ist die das Loch umhüllende Materie.
    Diese Lösung ist weder befriedigend noch unumstritten. Man hört selten, ein Loch im Käse bestehe aus Käse, und doch wäre das in diesem Fall die richtige Beschreibung. Bei Höhlen haben wir dieses Problem interessanterweise nicht; Höhlen können aus Kalkstein oder aus Eis bestehen, also aus dem umgebenden Material. Außerdem muss Argle die Alltagssprache verbiegen, um sich nicht zu widersprechen. Weil das, was das Loch umgibt, jetzt identisch ist mit dem Loch, muss man den Ausdruck «umgibt» umdefinieren zu «ist identisch mit»; man bräuchte also auf einmal zwei Bedeutungen des Wortes «umgibt», nur um zu vermeiden, dass ein Loch sich selbst umgibt. Ob solche Tricks erlaubt sind oder nicht – darüber werden sich Argle und Bargle am Ende nicht einig.
    Der Vorteil der scholastischen Position: Sie hat solche sprachlichen Verrenkungen nicht nötig. Löcher dürfen genau das sein, was wir im normalen Sprachgebrauch darunter verstehen. Unsere alltägliche Art, über Löcher zu reden, als seien sie Objekte, gerät jedoch aus einer anderen Richtung unter Beschuss. Es ist nämlich nicht klar, wie wir Löcher wahrnehmen, also wieso wir überhaupt so viel über sie zu wissen scheinen, wenn sie doch aus nichts bestehen. Löcher gehören ins Reich der Gestaltpsychologie, einer im frühen 20. Jahrhundert entstandenen Lehre, die sich unter anderem mit Dingen befasst, die wir erkennen, obwohl sie nicht direkt mit unseren Sinnen wahrgenommen werden können. Ein anderes Beispiel für so ein Ding ist Bewegung in Filmen – was in Wirklichkeit eine schnelle Abfolge von Einzelbildern ist, sieht für uns aus wie eine fließende Bewegung. Was wir sehen, ist also eine Illusion; wir bauen uns aus den einzelnen Sinneswahrnehmungen eine Welt zusammen, die mehr enthält, als diese Sinneswahrnehmungen direkt mit sich bringen. Unter anderem eben Löcher.
    Wie dieses Zusammenbauen funktioniert, das ist die Frage. Im Falle von Löchern spielt der Rand eine zentrale Rolle, genau wie von Argle vorgeschlagen. Die Form und Größe von Löchern kann eigentlich nur über ihren Rand wahrgenommen werden, weil es da im Loch sonst nichts gibt. Oder wie Tucholsky sagt: «Das Merkwürdigste an einem Loch ist der Rand. Er gehört noch zum Etwas, sieht aber beständig in das Nichts, eine Grenzwache der Materie.»
    Aber haben Löcher überhaupt einen Rand? Ein altes Prinzip der Gestaltpsychologie sagt, dass nur richtige Objekte einen Rand haben können, Objekte wie die berühmte Vase, erfunden vom dänischen Gestaltpsychologen Edgar Rubin: eine weiße Vase auf schwarzem Grund – oder aber zwei schwarze Gesichter in Seitenansicht auf weißem Grund. Mit etwas geistiger Anstrengung kann man zwischen beiden Bildern hin- und herschalten, man sieht aber nie beide gleichzeitig. Die Information über Vase oder Gesicht wird nur über den Rand vermittelt, die Grenze zwischen

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