Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition)
etwas nur geben kann, wenn man es anfassen oder zumindest mit irgendwelchen wissenschaftlichen Geräten wie Teleskopen oder Teilchenbeschleunigern untersuchen kann. Das muss aber nicht so sein. Der Platoniker könnte erwidern: Naturgesetze sind ebenfalls immateriell und abstrakt, man kann sie nicht anfassen, und doch gibt es sie. Platonische Mathematik kann man verwenden, ohne deshalb gleich an den Weihnachtsmann glauben zu müssen.
Der Platonismus hat jedoch ein ganz anderes Problem. Wenn wir eine neue Art Giraffe entdecken, dann nur, weil wir das Tier sehen oder ein Buch lesen, in dem jemand beschreibt, die Giraffe gesehen zu haben. Mit anderen Worten: Es gibt einen kausalen Zusammenhang zwischen der Giraffe und unserem Wissen über die Giraffe. Wenn man sich auf den Standpunkt stellt, dass kausale Zusammenhänge der einzige Weg sind, Wissen über die Welt zu erhalten, dann ist vollkommen unklar, wie das bei der Zahl 7 oder anderen mathematischen Strukturen funktionieren soll, weil wir mit ihnen eigentlich nicht in Kontakt treten können. Wie kommt es, dass wir so viel über diese unantastbare Sonderwelt zu wissen scheinen?
Der Platonist könnte sich herausreden, die Art und Weise, wie wir mit der Zahl 7 interagieren, sei noch nicht bekannt. Das Argument ist legitim, denn woher wir von etwas wissen, egal, was es ist, wissen wir nicht so genau (→Wissen). Aber es ist trotzdem ein wunder Punkt für den Platonismus. Der englische Mathematiker Sir Roger Penrose glaubt, dass der menschliche Verstand in der Lage ist, einen direkten Kontakt zur platonischen Welt herzustellen. «Wenn man eine mathematische Wahrheit ‹sieht›», so Penrose, «dann stößt das Bewusstsein vor in die Welt der Ideen.» Wie das funktionieren soll, ist unklar, man bräuchte zunächst einmal eine Ahnung, wie das Bewusstsein funktioniert, ein weiteres großes Fragezeichen. Wenn Penrose recht hat, dann ist der Verstand nicht einfach nur ein komplizierter Computer, sondern hat zusätzlich noch eine Verbindung zu platonischen Extrawelten – wie Antennen, nur ganz anders.
Rings um den Hauptgeschäftssitz von «Platonismus und Söhne» bieten Tante-Emma-Läden und Straßenhändler ein reichhaltiges Sortiment an Alternativen zum Angebot der Platonisten an. Für jeden Geschmack ist etwas dabei. Man kann zum Beispiel behaupten, dass die Mathematik sich in Wahrheit nicht von den anderen Naturwissenschaften unterscheidet und nur so tut, als sei sie etwas Besonderes. Die Mathematik wäre dann nicht mehr die Grundlage der Physik, sondern umgekehrt: Mathematische Strukturen würden nur existieren, weil es sie in den Naturgesetzen gibt. Damit wäre das große Problem des Platonismus gelöst: Wir müssten nicht umständlich Kontakt mit einer immateriellen Welt aufnehmen. Wie die Gesetze der Physik würde sich uns die Mathematik durch Experimente, Messungen und Beobachtung der Natur offenbaren. Wer sich für solche Theorien interessiert, der wird eventuell später im Kleingedruckten feststellen, dass er eine eingeschränkte Mathematik gekauft hat, die nur das enthält, was in der Natur auftaucht. Zum Beispiel hat die Natur nur endlich viele Dinge, das heißt, man hätte nur endlich viele Zahlen zur Verfügung. Wenn man sich mit dem Platonisten zum Wettzählen trifft, dann müsste man an irgendeiner Stelle aufhören, während der Platonist noch unendlich viele Runden weiterzählen kann – eine deprimierende Niederlage.
Andere Experten verkaufen Mathematik als eine Art Brettspiel mit einer besonders umständlichen Anleitung. Die Zahl 7 ist nichts als ein Spielstein, ein Symbol, das man nach bestimmten Regeln auf einem komplizierten Spielfeld der Mathematik hin- und herschiebt. Eine Regel für die 7 lautet zum Beispiel: «Wenn man sie mit zwei multipliziert, kommt 14 heraus.» Das einzige Problem: Der Verkäufer dieser Theorie behauptet zwar, dass es einen Satz Regeln gibt, auf dem die gesamte Mathematik beruht, aber er liefert diese Anleitung nicht mit. Zu Hause packt man die ganzen brandneuen Zahlen und Symbole dann aus und weiß nicht, wie man sie zusammenbauen soll. Nach jahrelangen Versuchen, die gesamte Mathematik auf ein paar wenige Anweisungen zurückzuführen, kam im Jahr 1931 der Österreicher Kurt Gödel und zeigte mit seinem «Unvollständigkeitssatz», dass es so eine Anleitung nicht gibt. Die Theorie wurde daraufhin vom Markt genommen beziehungsweise nur noch in eingeschränkter Form angeboten.
Weiterhin erhältlich dagegen ist die Ansicht,
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