Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition)
dass die Zahl 7 und die gesamte Mathematik ein Konstrukt sind, das es zwar gibt, aber nur in den Köpfen der Leute, die sich damit befassen – kein Brettspiel, keine Extrawelten, nur Gedanken. Im Gegensatz zu den Platonisten behaupten diese Leute, eine mathematische Aussage sei wirklich erst dann wahr, wenn jemand sie bewiesen hat. Die Riemann-Hypothese und alle anderen bisher unbewiesenen Vermutungen in der Mathematik wandern damit in eine ominöse Zwischenwelt, in der es weder wahr noch falsch gibt. Würde man alle intelligenten Wesen aus dem Universum entfernen, würde damit auch die Mathematik verschwinden. Wer damit klarkommt, muss sich noch mit ein, zwei anderen kleinen Problemen auseinandersetzen: Wenn die Zahl 7 eine Idee im Kopf ist und sonst nichts, dann muss es irgendwie mehrere davon geben. Schließlich können zwei Leute durchaus gleichzeitig den Gedanken «7» haben. Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass die 7 eine Art Staffelstab ist, den immer nur einer festhalten kann. Gibt es also nicht nur eine, sondern viele verschiedene Siebenen? Wie soll man sich das vorstellen? Außerdem müsste man sich wiederum mit endlich vielen Zahlen begnügen, denn kein Mensch kann unendlich viele Ideen haben.
Und schließlich gibt es eine ganze Reihe von Verkaufsständen von Leuten, die behaupten, dass es die Zahl 7 überhaupt nicht gibt. Der Zoo an mathematischen Objekten wäre so etwas wie eine Herde Einhörner oder eine Rotte Welthunde oder ein Schwarm Vampire oder sonst irgendwas, das nur in Sagen oder Märchen vorkommt. Wenn es aber keine Zahlen und Rechensymbole gibt, was bedeuten dann mathematische Aussagen wie 1 + 1= 2? Wenn man dieser Theorie folgt, dann gibt es nur einen Ausweg – alle diese Aussagen sind genauso falsch wie die Aussage «ein Einhorn hat 4 Beine», weil es eben keine Einhörner gibt, auf die sich die Aussage beziehen könnte. Die gesamte Mathematik ein einziges Lügengebäude. «Das ist mir zu verrückt», hört man die potenziellen Käufer murmeln, «da mache ich nicht mit.» – «Verrückt, vielleicht», erwidert der Anbieter, «aber bedenken Sie, wie verrückt all die anderen Theorien sind. Sehen Sie sich ruhig um, und Sie werden feststellen, dass meine noch am vernünftigsten ist.»
Wenn man wirklich die Existenz von mathematischen Objekten abstreitet, muss man irgendwie erklären, wieso diese Objekte in Naturgesetzen auftauchen, die wohl kaum Einhorncharakter haben können. An einem der Stände wird dem interessierten Käufer darum gleich noch eine Physik versprochen, die ganz ohne Mathematik auskommt. Leider ist eine solche Physik bisher nur in Bruchstücken erhältlich, und es ist ungewiss, ob sie je fertig wird.
Wem eine der beschriebenen Varianten gefällt, der sollte sich nicht gleich von den teilweise bedenklichen Mängeln abschrecken lassen. Zu jeder Theorie gibt es verschiedene Versionen, die zum Teil extra ausgedacht worden sind, um eines oder mehrere der geschilderten Probleme zu beseitigen. Und wenn das nicht ausreicht, kann man sich eine verbriefte Zusatzmeinung kaufen, die es einem erlaubt, das Problem zwar nicht zu lösen, aber doch zu ignorieren oder es für unsichtbar zu erklären.
An dieser Stelle verlassen wir den Jahrmarkt der Theorien über die Zahl 7 und alle anderen mathematischen Konstrukte. Es ist nicht ungewöhnlich, wenn man angesichts der Vielfalt der Meinungen verwirrt ist und sich irritiert fragt, ob man jetzt durch all diese philosophischen Erörterungen schlauer ist als zuvor. Das hat eventuell damit zu tun, dass die Eingangsfrage einfach schwer zu beantworten ist, oder um Ludwig Wittgenstein zu zitieren: «Ein philosophisches Problem hat die Form: Ich kenne mich nicht aus.» Es ist wichtig, jede einzelne Position gründlich zu durchleuchten, Schwächen herauszustellen und Alternativen zu erarbeiten, und genau das passiert in der Philosophie der Mathematik. Außerdem kann man alle diese Theorien daran messen, ob sie das große, logische Gedankengebäude der Mathematik intakt lassen. Das führt zum Beispiel dazu, dass die vorhin erwähnten Brettspieltheorien ins Hintertreffen geraten, weil sie sich nicht mit Gödels Unvollständigkeitssatz vertragen.
Die meisten Mathematiker arbeiten zu Bürozeiten so, als wären sie Platoniker. Fragt man sie dann nach Feierabend, sieht das Meinungsbild weniger klar aus. Einige, wie Roger Penrose oder Kurt Gödel, bleiben harte Vertreter des Platonismus. Andere rutschen nervös auf ihrem Stuhl hin und her und geben
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