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Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition)

Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition)

Titel: Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Passig , Aleks Scholz , Kai Schreiber
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schließlich zu, eine andere Ontologie sympathischer zu finden.
    Die meisten philosophischen Argumente gegen den Platonismus sind mindestens ein paar Jahrzehnte alt, manche Jahrhunderte. Daneben gibt es auch brandneue Stimmen gegen den Platonismus, und sie kommen aus einer vollkommen anderen Richtung. Der französische Neuropsychologe Stanislas Dehaene interessiert sich dafür, was eigentlich im Gehirn abläuft, wenn wir mathematisch denken. Er zeigt, dass diverse Tierarten über rudimentäre Rechenfähigkeiten verfügen. Auch Säuglinge, die weder sprechen können, noch in die Schule gehen, können schon ein wenig zählen, so behauptet er: Verbirgt man zunächst ein Objekt, dann ein weiteres hinter einem Schirm, dann erwarten sie, zwei Objekte zu sehen, wenn der Schirm wieder entfernt wird. Wir wissen das, weil sie länger hinsehen, wenn man eines der Objekte heimlich entfernt, sodass nur noch eins übrig bleibt. Sie erwarten zwei, bekommen nur eins, sind überrascht und starren daher ein wenig länger. Außerdem findet der Umgang mit Zahlen im Gehirn an spezifischen Stellen statt, was man durch neuronale Abbildungsverfahren wie →Funktionelle Magnetresonanztomographie herausgefunden hat.
    Dehaene folgert aus alldem, dass wir keine platonischen Extrawelten brauchen. Zahlen, so sagt er, sind nichts als ein Konstrukt unserer Gehirne, eine Position, die uns schon bei den Philosophen begegnet ist. Wir verfügen über die Fähigkeit des Zählens, weil sie uns einen evolutionären Vorteil verschafft. Wenn zwei Tiger sich hinter einem Felsen verstecken und einer wieder rauskommt, dann ist es nützlich, wenn man ausrechnen kann, wie viele noch im Hinterhalt liegen. Die Fähigkeit unseres Gehirns, mit Zahlen umzugehen, ist eng damit verbunden, dass wir in einer Welt leben, die voll ist mit abzählbaren Objekten.
    Mit Hilfe der Hirnforschung kann man vermutlich irgendwann erklären, wie die Zahlen in unseren Kopf kommen. Ob sie uns sagen kann, was Zahlen letztlich sind, erscheint fraglich. Der Platonist würde nie bestreiten, dass irgendwas im Gehirn abläuft, wenn man über Zahlen nachdenkt, und er hat auch kein Problem damit, dass sich diese Fähigkeit im Laufe der Evolution entwickelt. Er würde trotzdem dabei bleiben, dass sowohl die Zahlen im Gehirn als auch die Abzählbarkeit von physikalischen Objekten letztlich ihren Ursprung in einer abstrakten, platonischen Welt haben, die praktischerweise in keinem Gehirnscanner sichtbar ist. Der Platonismus ist eben nicht so einfach totzukriegen.
    Es sei denn, morgen stehen die →Außerirdischen vor der Tür. Nachdem wir den üblichen Smalltalk über die Mondphasen und den Sonnenwind hinter uns haben, kommt das Gespräch auf Mathematik. Es stellt sich heraus, dass die Außerirdischen völlig andere mathematische Konzepte haben als wir. Vielleicht zählen sie so wie wir, eventuell addieren und subtrahieren sie auch noch, aber darüber hinaus kennen sie weder komplexe Zahlen noch Logarithmen noch fraktale Geometrie. Stattdessen haben sie irgendwelches anderes Zeug. Oder schlimmer, es stellt sich heraus, dass sie noch nie etwas von Mathematik gehört haben und trotzdem in der Lage waren, Raumschiffe zu bauen und im Weltall herumzufliegen. Für die Platonisten wäre das ein Debakel. Denn wenn Mathematik aus unveränderlichen, immateriellen Strukturen besteht, die das Fundament des Universums bilden, dann kommt man ohne Mathematik nicht weit.
    An diesem Punkt hätten die Platonisten nur noch zwei Optionen. Entweder sie machen ihren Laden dicht und suchen sich andere Betätigungsbereiche, zum Beispiel als Straßenmusikanten. Oder aber sie verstecken die Außerirdischen in einem geheimen Bunker irgendwo in der Wüste und tun so, als sei nichts geschehen.

[zur Inhaltsübersicht]
    Megacryometeore
    This is the Voice of Doom speaking! Special bulletin! Flash! The sky is falling! A piece of it just hit you on the head! Now be calm. Don’t get panicky. Run for your life!
    Foxy Loxy zu Chicken Little, «Chicken Little», 1943
    «Megacryometeore» ist der im Jahr 2002 eingeführte Fachbegriff für «große fliegende Eisbrocken», wobei diese Eisbrocken streng genommen erst dann ins Visier der Wissenschaft geraten, wenn sie nicht mehr herumfliegen, sondern jemandem vor die Füße gefallen sind. Oder auf die Windschutzscheibe oder durchs Dach in die Küche. Am nächsten Tag sieht man die Betroffenen in der Zeitung mit beiden Händen ein Stück Eis in die Kamera halten. Das geschieht gar nicht

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