Das neue Philosophenportal
Welt
hält auch gegen Aristoteles an der christlichen Doktrin fest, dass Gott vor der Zeit existiert hat. Auch wenn Aristoteles
zur großen philosophischen Autorität geworden war, blieben fundamentale kirchliche Lehren für Thomas unverzichtbar: Dazu gehörte,
dass Gott die Welt aus dem Nichts erschaffen und den Menschen mit einem eigenen Willen, einer individuellen Vernunft und einer
individuellen Seele ausgestattet hat.
Vermutlich um das Jahr 1266, also noch während seines Aufenthalts in Italien, begann Thomas die Arbeit an seiner zweiten großen
Summe
, der
Summe der Theologie
. Sie war, anders als die
Summe gegen die Heiden
, nicht für die Auseinandersetzung mit den Nicht-Christen bestimmt, sondern sollte den Lehrbetrieb innerhalb des Ordens auf
eine neue theoretische Grundlage stellen. Das Verhältnis zwischen Gott, Welt und Mensch sollte mithilfe der Philosophie des
Aristoteles neu bestimmt werden.
Die Summe der Theologie
hatte den Anspruch, eine neue Metaphysik und eine neue Ethik auf christlicher Grundlage zu entwerfen.
Den ersten Teil seines Opus Magnum, in dessen Mittelpunkt Gott steht, schloss er noch in Italien ab. In den Jahren zwischen
1268 und 1272, als er wiederum in Paris lehrte, entstand der zweite, dem Menschen gewidmete Teil des dreiteiligen Werkes.
Von 1272 bis zu seinem Tod 1274 zog Thomas wieder in seine süditalienische Heimat. Hier konnte er noch den dritten Teil beginnen,
der sich mit dem Mensch gewordenen Sohn Gottes beschäftigt, aber nie vollendet wurde. Es wird berichtet, Thomas habe am 6. Dezember 1273 ein mystisches Erlebnis gehabt, das ihn tief erschütterte und am Wert seiner gesamten Lebensarbeit zweifeln
ließ. Anschließend hat er nichts mehr geschrieben.
Dass die
Summe der Theologie
Fragment geblieben ist, ändert nichts an der geradezu gigantischen philosophisch-theologischen Konstruktionsleistung. Die
zwölf Bände umfassende deutsche Gesamtausgabe stellt jeden Leser vor eine ungeheure Herausforderung, sodass es auch unter
Fachleuten nur sehr wenige gibt, die sie vollständig gelesen haben. Für die Philosophen waren immer die ersten beiden Teile
des Werks von Bedeutung. In ihnen wird eine Gott undMensch umfassende Weltordnung entworfen, die in ihrer rationalen Struktur und ihrem gesetzmäßigen Ablauf der menschlichen
Vernunft zugänglich ist.
Thomas geht wie Aristoteles von der Beobachtung der gesetzmäßigen Abläufe der Natur aus und übernimmt von diesem die Begriffe,
mit denen er Entstehen und Vergehen in der Welt erklärt. Auch für ihn ist das Universum teleologisch, also zweckmäßig geordnet.
Es ist eine Welt, in der sich aus ungeformtem Stoff, dem Bereich der Möglichkeit, immer wieder Formen entwickeln, die im Stoff
als »Zweck« angelegt waren und gesetzmäßig aus ihm hervorgehen. Aus Stoff wird Form, aus Möglichkeit wird Wirklichkeit. Die
Formen machen das Wesen, die »Substanz«, eines Dinges aus. Dem stehen die »Akzidentien«, die wechselnden Eigenschaften eines
Dinges, gegenüber. Dabei kommt er ebenso wie Aristoteles zu dem Ergebnis, dass wir bei der Betrachtung der Zweckmäßigkeit
der Welt zwangsläufig auf Gott als Ursprung und Ziel aller Gesetzmäßigkeiten stoßen. Zwischen der Welt und Gott gibt es keinen
unüberwindlichen Graben, sondern Brücken, die die Vernunft baut.
Auch Vernunft und Glaube rücken bei Thomas sehr viel näher aneinander. Beide stehen nicht im Gegensatz zueinander, sondern
führen in die gleiche Richtung. Man kann sich ihr Verhältnis als das zweier Staffelläufer vorstellen: Die Vernunft bestreitet
den ersten Teil des Laufes, bis ihr die Luft ausgeht. Dann gibt sie den Stab an den Glauben weiter. Nur er ist in der Lage,
ins Ziel zu laufen, also zur wahren und vollständigen Erkenntnis Gottes zu gelangen. Das »natürliche Licht der Vernunft«,
wie Thomas sagt, bestimmt die Leistungsgrenzen der Philosophie. Die Theologie, die auf ihr aufbaut, kann sich dagegen auf
das »Licht einer höheren Wissenschaft« stützen.
Ein Beispiel dafür ist die Frage nach der Erschaffung oder der Ewigkeit der Welt. Aristoteles hatte in seiner
Physik
den Grundsatz aufgestellt: »Aus nichts wird nichts.« Es muss also immer schon etwas gegeben haben, aus dem die Welt geformt
wurde. Aristoteles hielt, wie die gesamte antike Philosophie, die Welt für ewig. Die kirchliche Lehre, die Welt habe einen
Beginn in der Zeit und Gotthabe das Universum aus dem Nichts erschaffen, geht nicht nur
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