Das neue Philosophenportal
Selbstbewusstseins, das die Vernunft gegenüber dem Glauben erlangt hatte.
Doch voll erfassen konnte man nach Thomas Gott auf diese Weise nicht. In seinem ganzen Geheimnis bleibt er nur dem Glauben
zugänglich. So ist die Erkenntnis der Dreifaltigkeit, also die Erkenntnis Gottes als einer Person, die in sich Gottvater,
Gottsohn und Heiliger Geist vereinigt, dem natürlichen Licht der Vernunft ebenso entzogen wie die Menschwerdung Christi und
die Erlösung der Menschen durch Kreuzestod und Auferstehung.
Dennoch ist bei Thomas der mit Vernunft ausgestattete Mensch Gott näher gerückt als in der neuplatonisch-augustinischen Tradition.
Er hat seinen festen Platz in der Seinsordnung und kann in dieser Ordnung überall die Spuren Gottes erkennen. Entscheidend
für die Verbindung zwischen Mensch und Gott ist die sogenannte »Geistseele«, mit der Thomas an den Begriff der »Psyche« in
der griechischen Philosophie anknüpft. Die Geistseele ist mehr als das, was wir heute unter »Seele« verstehen. Sie ist die
entscheidende Lebenskraft, die Vereinigung aller geistigen, seelischen und emotionalen Regungen. Bei Platon umfasste sie Vernunft,
Wille und Leidenschaft. Auch bei Thomas schließt sie eine erkennende, empfindende und eine vegetative Funktion ein. Anders
als in unserem heutigen Verständnis ist die Vernunft also ein Teil der Seele. Jeder Mensch hat seine eigene, individuelle
Seele, denn nur durch sie ist die Unsterblichkeit des Menschen möglich. Auch die These von der Unsterblichkeit der Seele entnimmt
Thomas der griechischen Philosophie. Platon hatte sie bereits in seinem Dialog
Phaidon
behauptet.
Thomas vertritt auch nicht wie Platon und später der französische Philosoph René Descartes die Auffassung, dass Seele und
Körper, Geist und Materie, sich im Menschen wie zwei Fremde gegenüberstehen, die aus jeweils einer anderen Welt kommen. Für
Thomas sind Körper und Seele eine leib-seelische Einheit, die erst durch den Tod gelöst wird.
Wie die Griechen, so nimmt auch Thomas an, dass die Seele in einem wohlgeordneten Zustand ist, wenn der erkennende Teil, die
Vernunft, die Herrschaft und Kontrolle über die anderen Seelenteile inder Hand hat. Diese Vernunft ist wie die Seele individuell ausgeprägt und nicht, wie bei Averroes, Teil einer überpersönlichen
Vernunft. Sie bestimmt, in welche Richtung der Wille sich wenden soll.
Das Thema der Willensfreiheit hatte in der griechischen Philosophie kaum eine Rolle gespielt, ist aber für das Christentum
enorm wichtig, da die Erlösung des Menschen von der willentlichen Entscheidung des Menschen für Gott abhängt und Begriffe
wie »Sünde« und »Schuld« sonst nicht erklärbar sind. Thomas hält deshalb auch daran fest, dass Gott den Menschen frei geschaffen
hat, also mit der Fähigkeit, sich auch gegen Gott zu entscheiden.
Für diejenigen, die sich bewusst gegen Gott entscheiden und dieser Entscheidung auch nach mehrmaliger Belehrung nicht abschwören,
fordert Thomas die Todesstrafe. Für ihn liegt hier eine Korruption der Seele vor, ein ungleich schlimmeres Vergehen als eine
körperliche Schädigung. Die Idee der religiösen Toleranz, wie sie sich im Westen seit der Aufklärung durchgesetzt hat, war
sowohl ihm als auch der Kirche insgesamt fremd.
Thomas greift die These des Aristoteles auf, dass alle Menschen nach Glück streben. Die neuplatonischen Philosophen der Spätantike
wie Plotin und Boethius hatten dieses Glück mit einem jenseitigen Gott identifiziert. Thomas greift beide Traditionen auf:
Das Glück, nach dem alle Menschen natürlicherweise streben, liegt in der Hinwendung zum christlichen Gott.
Dem Menschen stehen zwei sich ergänzende Wege offen, um die Verbindung zu Gott herzustellen: ein weltlicher und ein religiöser.
Dabei werden das weltliche und das religiöse Leben nicht gegeneinander ausgespielt. Der Mensch muss beide Wege gehen, er muss
sowohl weltliche als auch religiöse Tugenden ausprägen, doch erst im religiösen Leben erlangt er den endgültigen Zugang zu
Gott.
Der weltliche Weg führt über die vier Kardinaltugenden, die Thomas von Platon übernimmt. Es sind Maß, Gerechtigkeit, Tapferkeit,
Klugheit, die er auch als »Angeltugenden« bezeichnet. Sie müssen auf dem religiösen Weg ergänzt werden durch die »gotteskundlichen
Tugenden« Glaube, Liebe und Hoffnung. In den weltlichen Tugenden steht der Bezug zu anderen Menschen im Mittelpunkt, in den
religiösender Bezug zu
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